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Sachsen-Anhalt, Hohengöhren: Ein Panzer vom Typ "Boxer" setzt bei einer Bundeswehrübung auf einer Schwimmschnellbrücke über die Elbe. Die Plattform besteht aus mehreren Amphibienfahrzeugen und soll den Panzer über die Elbe befördern. Das Manöver fand im Rahmen der mehrtägigen Übung "Wettiner Schwert" im April 2022 statt.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Willy Brandt richtig lesen: Zur Entspannung gehört von Anfang an die Eindämmung

Wer Brandts Ostpolitik zum Vorbild nimmt, muss beachten, dass es dabei nicht nur um Entspannung ging. Erwiderung auf einen Essay von Merkel und Schroeder.

Unter dem Titel „Aufrüstung ist noch kein Konzept“ haben die Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel und Wolfgang Schroeder, die beide Mitglieder der Grundwertekommission der SPD sind, ihre Forderungen an eine neue sozialdemokratische Sicherheitspolitik im Tagesspiegel vorgestellt. Dieser Text ist eine Erwiderung. Außerdem ist bereits eine Erwiderung von Patrick Horst erschienen.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat in der deutschen Politik zu Recht zu einer neuen Strategiedebatte geführt. Dabei geht es zentral um die Frage, ob Abschreckung oder Wandel durch Annäherung erfolgreicher ist. Doch das ist keine Entweder-oder-Frage, vielmehr ist es wichtig, den Doppelcharakter erfolgreicher Außenpolitik gegenüber potenziell aggressiven Autokratien zu verstehen.

[Der Politikwissenschaftler Michael Zürn ist Direktor der Abteilung „Global Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität.]

Daher teile ich zwar die Auffassung, welche Wolfgang Merkel und Wolfgang Schroeder in ihrem Essay im Tagesspiegel vertreten haben, dass Aufrüstung allein noch kein Konzept ist; aber die bei ihnen anklingende sequenzielle Strategie – jetzt Eindämmung, danach Friedenspolitik – halte ich gleichfalls für unzureichend. Gerade wenn wir uns Willy Brandt zum Vorbild nehmen.

Die Entspannungspolitik von Willy Brandt war nämlich eingebettet in den Schutzschirm der Nato. Brandt war auch stets genauestens darauf bedacht, dass die Entspannungspolitik von den USA mitgetragen wird. Es war zudem sein Nachfolger Helmut Schmidt, der den Nato-Doppelbeschluss initiierte, um die militärische Anbindung der USA an Europa zu sichern. Nicht zu vergessen: Während der Kanzlerschaft Brandts erhöhte sich zwischen 1970 und 1972 der Anteil der deutschen Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt (BIP) von 3,2 auf 3,4 Prozent. Und schließlich galten auch während der Entspannungspolitik durchweg Wirtschaftssanktionen. Beispielsweise wurde kontrolliert, dass der Handel mit der Sowjetunion nicht zum Export rüstungsrelevanter Technologie führte.

[Der Ukraine-Krieg und Berlin: Alles Aktuelle und Wichtige hier im Newsblog]

Die Politik nach 1990 und insbesondere die Strategie der Großen Koalition verzichtete auf diese Doppelung. Sie setzte auf Abrüstung und vernachlässigte die eingegangenen Nato-Verpflichtungen: 2015, ein Jahr nach der Krim-Annexion, lag der BIP-Anteil der Rüstungsausgaben 0,8 Prozentpunkte unter dem Zwei-Prozent-Ziel. Statt Wirtschaftssanktionen machte sich Deutschland durch Nord Stream 1 und 2 abhängig von russischen Rohstoffen. Die deutsche Politik ging davon aus, dass die Kriegsgefahr in Europa ein für alle Mal gebannt sein würde.

Ein Stadtviertel in der Ukraine, verwüstet von russischen Luftangriffen.
Ein Stadtviertel in der Ukraine, verwüstet von russischen Luftangriffen.

© AFP

Wir sollten also nicht so tun, als gäbe es eine sozialdemokratische Kontinuität in der Außenpolitik, die durch das Konzept „Wandel durch Handel“ gekennzeichnet ist und die Zeit zwischen 1969 und 2022 umfasst. Wer das tut, wird Egon Bahr und Willy Brandt nicht gerecht.

Es braucht vier konkrete Politikänderungen

Denn die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition wartete nicht, gewissermaßen darauf hoffend, dass eine sowjetische Expansion ausblieb. Sie agierte vielmehr aktiv, um eine Expansion so weit als möglich zu erschweren. Demgegenüber setzte die Politik nach dem Fall der Mauer auf die Prämisse, dass der Krieg in Europa unmöglich geworden ist. Jetzt gilt es, neu zu denken. Dazu sollten wir ganz im Sinne Willy Brandts Weltordnung und Machtpolitik, werte- und interessengeleitete Außenpolitik nicht als Gegensätze verstehen. Sie gehören zusammen. Daher braucht es vier Politikänderungen:

Erstens: Die von Merkel und Schroeder in einem ersten Schritt geforderte Eindämmung Russlands ist im Konzept des US-Diplomaten George Kennan von Februar 1945, auf dem sie beruht, an zwei Punkten deutlich akzentuierter, als die beiden Autoren es gebrauchen. „Das Hauptelement einer jeden Politik der Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion muss eine langfristige, geduldige, aber entschlossene und wachsame Eindämmung der russischen Expansionstendenzen sein“, heißt es bei Kennan. Kennan denkt Eindämmung also als langfristigen und dauerhaften Prozess und gerade nicht als quasi einmaligen Akt, dessen Vollzug eine Rückkehr zur alten Tagesordnung erlaubt.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Wichtiger noch: Es geht Kennan nicht nur um eine Eindämmung an den Nato-Grenzen. In den Überlegungen von Schroeder und Merkel spielen die Ukraine, als Nicht-Nato-Mitglied, und das Recht auf nationale Selbstbestimmung jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Die Souveränität müsse vielmehr mit den Interessen der großen Mächte „verbunden“ werden, heißt es bei ihnen.

Das irritiert. Eindämmung muss nämlich auch heißen, der Putin’schen Logik eines vormodernen Realismus der Einflusssphären zu widerstehen. Ansonsten negiert man die Errungenschaft der Dekolonisierungsbewegung und stellt letztendlich eine zentrale Norm der internationalen Politik infrage: die nationale Selbstbestimmung der Völker. Daher geht es jetzt um mehr als die Ukraine, es geht um einen zwingend verteidigungswerten Imperativ. So viel Universalismus muss sich eine sozialdemokratische Außenpolitik leisten, sonst ist sie nicht sozialdemokratisch im Sinne Willy Brandts.

Die Nato braucht eine zweite, europäische Säule

Zweitens: Mit der starken Reaktion des Westens auf die russische Aggression hatte keiner gerechnet. Zu verdanken ist sie einer umsichtigen amerikanischen Führungsarbeit. Unter Donald Trump hätte das anders ausgesehen. Daraus folgt zweierlei: Wir sollten unseren Beitrag zur Nato leisten und keine Vorwände für einen amerikanischen Rückzug liefern. Und wir sollten gleichzeitig vorbereitet sein, wenn sich die Dinge in den USA anders entwickeln, als wir es uns wünschen.

Es geht darum, innerhalb der Nato eine zweite, eine europäische Säule aufzubauen, in enger Kooperation mit der aktuellen amerikanischen Führung. Was mir in der 100-Milliarden-Rede von Olaf Scholz fehlte, war die multilaterale Einbindung der Rüstungspolitik in die EU und die Nato. An dieser Stelle hätte Helmut Schmidt als Vorbild dienen können.

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Drittens: Es gilt, strategische ökonomische Abhängigkeiten gegenüber autoritären und potenziell aggressiven Staaten abzubauen. Entscheidend wird aber in jedem Falle sein, dass der Westen auch die Handels- und Kooperationspolitik gegenüber autokratischen Mächten in strategisch zentralen Fragen wieder multilateralisiert. Alleingänge à la Nord Stream, an denen die Sozialdemokratie erheblich mitbeteiligt war, darf es zukünftig nicht mehr geben.

Massenhaft Leichen getöteter Zivilisten: Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Butscha und anderen Orten bleiben Bilder von Gräueltaten.
Massenhaft Leichen getöteter Zivilisten: Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Butscha und anderen Orten bleiben Bilder von Gräueltaten.

© Felipe Dana/AP/dpa / Felipe Dana/AP/dpa

Viertens: Eine Reform der Weltordnung steht an. Auch die liberal-demokratischen Staaten müssen auf Sonderrechte und einseitige Festlegungen globaler Normen und Regeln verzichten. Die Haltung Indiens im Ukrainekrieg hat viel mit Enttäuschungen angesichts von Alleingängen wie im Irakkrieg und fehlender Mitbestimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu tun. Es bedarf der Kompromissbereitschaft und der Anerkennung von gleichen Rechten für alle Teile der Weltgemeinschaft. Eine reformierte Weltordnung muss eine multilaterale sein, keine verkappt unilaterale.

Letztlich hängen die Details einer neuen Strategie auch vom Ausgang des Ukrainekrieges und der Zukunft des Putin-Regimes ab. Wir brauchen also Geduld – aber neu muss sie sein und keine aufgewärmte Version der Jahrzehnte der Hoffnung.

Michael Zürn

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