Von Matthias Jekosch: Alles oder nichts
Berliner Türken sahen dem Spiel gegen die Schweiz gelassen entgegen. Sollte ihre Elf ausscheiden, fiebern sie für Deutschland mit
Stand:
„Die Schweiz?“ Hatnan Gündoglu wetzt die Klingen seiner langen Messer. „Wenn die gewinnen, dann gratuliere ich“, sagt er und schneidet Fleisch vom Dönerspieß. Er arbeitet im türkischen Restaurant Bagdad am Schlesischen Tor. Gestern Abend stand das EM-Vorrundenspiel Schweiz gegen Türkei auf dem Programm. „Wer gut in Form ist, soll weiterkommen“, sagt Ersoy Yilmaz, der in der Köpenicker Straße in Kreuzberg ein Stehcafé besitzt.
Das Spiel hat eine gewisse Brisanz: Vor zweieinhalb Jahren war die Türkei nach einem 4:2 in Istanbul in der WM-Qualifikation gegen die Schweiz ausgeschieden. Der Sieg hatte nicht gereicht, um die 0:2-Niederlage aus dem Hinspiel wieder auszugleichen. Das Stadion verwandelte sich daraufhin in einen Hexenkessel, das Schweizer Team musste Tritte und Schläge einstecken. Die Strafe folgte auf dem Fuße: Die Türkei hatte drei Pflichtspiele in Folge im Ausland und ohne Fans auszutragen. Der Verband musste eine Geldstrafe zahlen.
Da könnte noch so mancher eine offene Rechnung begleichen wollen. „Nein“, wiegelt Suat Kaygan ab. „Rachegefühle hat hier niemand.“ Der zweite Vorsitzende von Türkiyemspor Berlin sitzt am frühen Nachmittag mit vier Freunden vor dem Fanlokal in der Admiralstraße. Am Abend zeigt der Fanclub das Spiel auf zwei Leinwänden. Normalerweise passen etwa 60 Stühle in das Vereinslokal. „Heute werden viele auch noch stehen. Das wird ein Erlebnis!“, ist sich Kaygan sicher. Ein Erlebnis, das je nach Spielausgang mit Tränen oder Hupkonzerten endet.
Wie schon 2005 ging es um alles oder nichts für die Mannschaften. „Beide müssen gewinnen“, sagt Kaygan. Sowohl die Türken als auch die Schweizer verloren ihr erstes Spiel und wären bei einer weiteren Niederlage draußen. „Vielleicht ist es für die Motivation gut, dass wir damals ausgeschieden sind“, sagt Firat Tuncay, Geschäftsführer von Türkiyemspor. Das hofft auch Yilmaz vor seinem Stehcafé. Auf dem Tisch liegt die „Hürriyet“. „Das war es, oder es geht weiter“, übersetzt Yilmaz eine Überschrift. Allzu groß scheint das Vertrauen in die türkische Elf nicht zu sein. „Die haben uns gegen Portugal sehr enttäuscht“, sagt Yilmaz. „Das war eine Ernüchterung“, sagt auch Nihat Sorgec vom Bildungswerk Kreuzberg, das sich vor allem um türkische Jugendliche kümmert.
Und wenn die Türkei wieder an der Schweiz scheitert? „Wenn wir nicht weiterkommen, ist das auch kein Weltuntergang“, findet Bekir Yilmaz, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde zu Berlin. Im Stehcafé von Yilmaz bekommen selbstverständlich auch Schweizer Gäste dann weiterhin Tee und türkisches Gebäck, wie der Inhaber belustigt versichert. „Ach, wir sind doch unter Freunden. Hier geht es um Sport.“ „Beide Seiten haben mit den Ausschreitungen von damals abgeschlossen“, glaubt Heinrich Maurer, schweizerischer Botschaftsrat. Unter den Fans sei das kein Thema mehr.
Zumal die Türken in Deutschland flexibel sind. „In einem Herzen haben wir zwei Mannschaften“, sagt Yilmaz von der Türkischen Gemeinde fast poetisch. Fliegt die türkische Mannschaft raus, drücken die Fans eben der deutschen die Daumen. Spätestens im Finale müsste das Herz ohnehin nur für eine schlagen. Deutschland und die Türkei können nämlich nur im Viertel- oder Halbfinale aufeinander treffen. Im Fanclub Türkspor e.V. 65 Berlin in der Köpenicker Straße hängen eine deutsche und türkische Fahne im Fenster. Yüksel Köser, seit 40 Jahren in Deutschland, nippt an seinem Tee. „Ich bin auf Ballacks Seite“ sagt er.
Matthias Jekosch
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