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Wer ist schuld? Weil bestimmte Logarithmus-Funktionen nicht im Unterricht behandelt wurden, konnten viele Brandenburger Schüler eine entsprechende Abituraufgabe nicht lösen. Verantwortlich sind die Lehrer, heißt es nun in einem Gutachten.

© Peter Kneffel/dpa

Brandenburg: „Damit wir nicht die nächste Pleite erleben“

Gutachten der Uni Potsdam: Viele Lehrer haben Rahmenlehrplan falsch interpretiert. Jede dritte Schule fehlte bei der Fortbildung

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Potsdam - Die Pannen beim Mathe-Abitur in Brandenburg sind maßgeblich darauf zurückzuführen, dass Lehrkräfte den Rahmenlehrplan nicht ausreichend kannten oder falsch verstanden haben – auch wegen versäumter Fortbildungen. Das geht aus einem am Donnerstag von Bildungsminister Günter Baaske (SPD) vor Journalisten und im Bildungsausschuss des Landtages vorgestellten Gutachten der Universität Potsdam hervor. In seinem Auftrag hatten die Forscher Ulrich Kortenkamp und Andreas Borowski untersucht, warum bestimmte Logarithmus-Funktionen nicht im Unterricht behandelt wurden. Diese waren aber Anfang Mai Bestandteil der schriftlichen zentralen Abi-Prüfung im Land. Das hatte für Aufregung und Beschwerden gesorgt.

Betroffen sind 113 der 136 Gymnasien, Oberstufenzentren und Gesamtschulen mit Abimöglichkeit im Land. Von 6000 Schülern, die diese Prüfung absolviert haben, konnten 2580 mit der Aufgabe nichts anfangen. Das sind 42 Prozent. Sie dürfen die Prüfung am 12. Juni wiederholen. Trotz des Ausmaßes liegt es laut Gutachten und Baaske „nicht an einem systemischen Versagen“. In der Pressemitteilung des Ministeriums ist sogar nur „von einzelnen Versäumnissen“ die Rede. Dem widersprach vor allem die CDU-Opposition. Bei diesem Ausmaß könne man die Verantwortung nicht auf Lehrer und Schüler schieben, so der Bildungsexperte Gordon Hoffmann. Systematisches Versagen sei unübersehbar.

Die Abi-Aufgaben wie auch der geltende Rahmenlehrplan hätten den Anforderungen entsprochen, betonte Kortenkamp. „Die Schüler hatten keine Schuld. Sie wurden nicht richtig auf diese Aufgaben vorbereitet.“ So hätten viele Lehrer den Lehrplan so fehlinterpretiert, dass dieser Stoff nicht unbedingt hätte behandelt werden müssen. Der Rahmenlehrplan war 2014 eingeführt worden. Und 30 Prozent der weiterführenden Schulen schickten keine Mathelehrer in die laut Ministerium verpflichtenden Fortbildungsveranstaltungen, die im Herbst 2014 in jedem der vier Schulamtsbezirke durchgeführt wurden.

Prompt brach nun Streit um den Charakter dieser Veranstaltungen aus. Gegenüber den PNN widersprachen mehrere Lehrer den Darstellungen der beiden Gutachter und des Ministers. Der Brandenburgische Pädagogen-Verband und der Philologenverband zogen in Zweifel, dass die Fortbildungen zu den Lehrplänen Pflicht gewesen seien. Zwar hätte man durchaus die strittige Aufgabe aus dem Rahmenlehrplan herauslesen können. Allerdings sei dieser missverständlich und nicht eindeutig. Der Rahmenlehrplan für Mathematik habe in dieser Hinsicht „Macken“, sagte die Vorsitzende des Philologenverbandes, Kathrin Wiencek. Das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (Lisum) hätte zum Rahmenlehrplan Zusatzmaterial an die Schulen schicken müssen, das die Inhalte näher erläutert.

Auch der Landeschef der Bildungsgewerkschaft GEW, Günther Fuchs, sagte, der Rahmenlehrplan sei interpretationsfähig, deshalb hätte es zusätzliches Material für die Lehrer bedurft. Es müsse nun geprüft werden, wie konkret die Lehrpläne sein müssen. Zum Vorwurf, Lehrer hätten nicht an Pflicht-Fortbildungen teilgenommen, verwies Fuchs auf fehlende Freiräume für Lehrer, weshalb eine Teilnahme oft zu Unterrichtsausfall führen würde. „Die Schulen haben nach bestem Gewissen gehandelt“, sagte der GEW- Landeschef. Jetzt dürfe nicht mit dem Finger auf die Lehrer gezeigt werden.

Hartmut Stäker, Präsident des Brandenburgischen Pädagogen-Verbandes, erklärte übereinstimmend mit dem Philologenverband, es habe keine Pflicht zu der Teilnahme gegeben. Darüber habe nur die Schulkonferenz zu entscheiden, sagte Stäker. Und Kathrin Wiencek sagte: „Eine Bitte ist keine Dienstanweisung.“

Wenn man ein zentrales Abitur wolle, müsse auch zentral klar geregelt werden, was gelehrt werden solle. Das Ministerium und das Lisum hätten aber nicht den Mut, den Schulen konkrete Vorgaben zu machen. Stattdessen werde es an die Schulen delegiert, den Rahmenlehrplan selbst auszugestalten. Deshalb könne auch nicht von einheitlichen Standards ausgegangen werden. Die Politik müsse sich entscheiden, was sie wolle. Selbstverantwortliche Schulen und ein Zentralabitur würden nicht zusammenpassen, sagte Stäker.

Die Einwände, dass die Veranstaltungen ja nicht verpflichtend gewesen seien, wiesen Baaske und Gutachter Kortenkamp zurück. „Das ist eine Ausrede“, sagte Kortenkamp. Er zitierte aus einem Schreiben des Bildungsministeriums vom 22. August 2014 an alle Schulleiter, in dem zu den Veranstaltungen für die neuen Mathe-Rahmenlehrpläne geladen wurde. Wörtlich hieß es da: „Ich bitte darum, einen Kollegen pro Fach und Schule zu entsenden.“ Es sei ein Schreiben des Ministeriums, Anlass sei ein neuer Lehrplan. „Es ist eine freundlich formulierte Verpflichtung“, sagte Kortenkamp. Natürlich formuliere man solch ein Schreiben nicht so, dass Konsequenzen angedroht werden, falls niemand komme. „Das Schulsystem funktioniert nicht mit der Peitsche. Es ist eine hinreichende Aufforderung.“ Und Baaske wies darauf hin, dass bei freiwilligen Fortbildungen die Fahrkosten nicht erstattet würden, nur bei verpflichtenden. „Und das war hier der Fall.“

Der CDU-Bildungsexperte wertete die Aussagen als Eingeständnis, dass der Lehrplan zu schwammig formuliert war, so sehen es auch Lehrerverbände. Deshalb hätte bei den Fortbildungen auch nachgeholfen werden müssen. „Die Schuld jetzt einzig und allein den Lehrern in die Schuhe schieben zu wollen, ist unwürdig“, sagte Hoffmann. Baaske verantworte schließlich die Schulaufsicht.

Im Bildungsausschuss des Landtages stellte die Grünen-Bildungsexpertin Marie Luise von Halem in Frage, ob dieses Fortbildungssystem tatsächlich geeignet sei, „einen Kollegen hinzuschicken, der es dann allen anderen erzählt“. In diesem Schneeballsystem sei es doch darauf angelegt, dass viele Lehrkräfte die Information nur aus zweiter Hand erhalten. „Es kann funktionieren“, sagte Kortenkamp. Es sei fraglich, ob man eine Teilnahme aller Fachlehrer absichern könnte.

Baaske will gleichwohl Konsequenzen aus dem Desaster ziehen. „Es tut mir leid, dass das passiert ist.“ So solle die Verpflichtung zur Fortbildung stärker kontrolliert werden. Man prüfe disziplinarrechtliche Befugnisse für Schulleiter, wenn Lehrkräfte Fortbildungen verweigerten. Das war eine Ankündigung, auf die Linke-Abgeordnete Gerrit Große – zugleich Ausschusschefin – skeptisch regierte. Man brauche nicht Zwang und Disziplinarmaßnahmen, „sondern eine Fehlerkultur an den Schulen“. Und der Mathe-Rahmenlehrplan selbst soll laut Baaske mit Erläuterungen – Modellbeispielen – präzisiert werden. Außerdem, so Baaske, werde ein „Fachbrief Mathematik“ aufgelegt. Die Abi-Panne lag laut Gutachten zwar ausdrücklich nicht daran, dass Brandenburgs Abiturienten in den Leistungskursen bislang mit vier Stunden eine Stunde weniger Matheunterricht pro Woche haben als die Berliner. Trotzdem seien vier Stunden ein Problem, weil „in stark leistungsheterogenen Gruppen nicht genügend Übungsmöglichkeiten für alle ... zur Verfügung stehen“.

Ab 2019/2020 sollen es auch in Brandenburg wieder fünf Mathestunden wöchentlich sein. Dies hatte Baaske bereits vor Monaten entschieden, vor der Abi-Panne. Auslöser seien Klagen von Schulen gewesen, in den Stunden den Stoff nicht zu schaffen, sagte er. Schon vorher werde man versuchen, mehr Mathe-Unterricht zu geben.

Die Abi-Panne hat das Ministerium wie auch die Bildungspolitiker im Landtag zusätzlich alarmiert. So verwies von Halem auf die neuen Rahmenlehrpläne für die Klassenstufen eins bis zehn und die Prüfungen der zehnten Klasse. Dort soll nun geklärt werden, ob die Fortbildung der Lehrkräfte gesichert ist, wie Baaske sagte: „Das werden wir uns näher anschauen, damit wir nicht noch einmal eine ähnliche Pleite erleben.“ Von der Opposition gab es aber nicht nur Kritik an Baaske. Dass der Minister die Panne von externen Experten untersuchen ließ, sagte die Grünen-Abgeordnete von Halem, „finde ich ausgesprochen löblich“.

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