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Brandenburg: Das geteilte Fest
Viele Berliner mussten 1961 ohne Familie feiern. Im Westen standen an der Mauer Christbäume, und mancher im Osten nutzte die letzte Chance zur Flucht
Stand:
O du fröhliche“ – vor 50 Jahren klang das gerade in Berlin wie ein Hohn. Das erste Weihnachtsfest nach dem Mauerbau, wer wollte sich da schon freuen. Nicht länger konnten Familien und Freunde einander frei und ungehindert besuchen, sich unterm Lichterbaum oder beim Gänsebraten treffen – jeder fühlte den Schmerz darüber nun besonders tief. Traurige Weihnachten!
„Meine Oma aus Charlottenburg war immer für die Klöße zuständig, aber nun standen wir ohne Oma und ohne Klöße da“, erinnert sich Christiane Karsten aus Friedrichshain. „Wir gingen immer als Familie gemeinsam, Ost und West, in die Friedenskirche in Niederschönhausen. Damit war es vorbei“, erzählt Charlotte Paul aus Pankow. Und Klaus Heinze aus Mitte holte sich stets vor dem Fest „ein paar Kleinigkeiten, von der Zigarette bis zum ordentlichen Kaffee, aus Kreuzberg“ – einmal U-Bahnhof Kochstraße und zurück. Ging auch nicht mehr.
Dass sich die Berliner zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder an einer weißen Weihnacht freuen konnten, war nur ein schwacher Trost, zumal die politischen Minusgrade noch weit unter den meteorologischen lagen: In West-Berlin stellte man Kerzen in die Fenster und Weihnachtsbäume an die Mauer, beschwor in Reden die Einheit. Das „Neue Deutschland“ zeterte zurück: „Die Störenfriede scheuen sich nicht, selbst den Tannenbaum zu schänden und als Waffe im psychologischen Krieg zu verwenden. Die Frontstadtgangster wollen, verkleidet als Weihnachtsengel, die friedlichen Weihnachtstage zu Tagen der Furcht und des Schreckens machen. Wir erkennen den Teufel am Pferdefuß, ob er nun als Goebbels oder in der Maske eines Weihnachtsengels daherhinkt.“ Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt hatte eine kurze Ansprache an die DDR-Grenzer auf Band gesprochen, die am Abend des 23. Dezember per Lautsprecher vom „Studio am Stacheldraht“ gen Osten übertragen wurde: „Die Friedensbotschaft dieser Tage sollte keiner überhören, der Waffen tragen muss.“ Selbst US-Präsident John F. Kennedy wandte sich in einer am ersten Weihnachtstag im SFB ausgestrahlten Sendung direkt an die Menschen in der eingemauerten Halbstadt: „Die Weihnachtslichter des freien Berlin dringen mit ihrem Schein tief in das Dunkel ringsum.“
Ganz abgerissen waren die Kontakte nicht. Die Paketflut Richtung Osten nahm rapide zu, und pfiffige West-Berliner besorgten sich rasch einen bundesdeutschen Pass: Damit wurde man als Besucher in Ost-Berlin zugelassen.
Manch einer im Osten wählt den entgegengesetzten Weg, so auch Joachim Neumann aus Oberschöneweide: Der 22-Jährige studiert 1961 an der Hochschule für Bauwesen in Cottbus und spürt im letzten mauerfreien Sommer, wie der politische Wind sich dreht. Demnächst soll er sich verpflichten, den Staat mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, und sein Dozent für Marxismus verkündet zur neuen Lage der Nation: „Jetzt geht’s hier anders lang. Wer nicht spurt, der fliegt.“ Joachim Neumann möchte frei leben dürfen, will abhauen. Die Eltern verstehen das, schweren Herzens. Ein Freund, der an der FU studiert, verhilft Joachim zur Flucht. Er besorgt einen Pass, dessen Besitzer, ein junger Schweizer, Neumann sehr ähnlich sieht. Noch wird nur kontrolliert, nicht abgestempelt. Nur: Neumann ist dunkel, der Mann auf dem Passbild blond. „Ilse, färb mir die Haare, aber frage nicht, warum“, flüstert Neumann im Friseursalon.
Drei Tage vor Heiligabend 1961 ist es soweit. „Als ich am späten Nachmittag von einem westdeutschen Studenten in einem Seiteneingang des HO-Warenhauses am Alex den Schweizer Pass, ein paar Fränkli, einen Straßenbahnfahrschein aus Zürich und eine Beruhigungstablette zugesteckt bekomme, bin ich ganz zufrieden: Das Foto und ich, wir sehen uns wirklich ähnlich.“ So fährt Joachim Neumann zum Bahnhof Friedrichstraße, geht entschlossen in den Eingang und bleibt kühl bis ins pochende Herz. Der Grenzer fragt: „Na, Sie haben sich wohl unsere Hauptstadt angeguckt?“ Er antwortet er mit einem knappen Ja. „Und, hat es Ihnen gefallen?“ Wieder ein Ja. Was wäre gewesen, hätte der Passkontrolleur ein Gespräch angefangen? Schwyzerdütsch stand nicht im konspirativen Trainingsprogramm. Als die S-Bahn aus dem Bahnhof rollt und den Humboldthafen hinter sich lässt, könnte Joachim Neumann schreien vor Lust: Es ist geschafft. Ein neues, ganz anderes Leben beginnt. Aber ohne Weihnachten in der Familie. Die Mutter in Oberschöneweide weint unterm Tannenbaum, sie bekommt den Brief mit der Nachricht aus West-Berlin erst nach dem Fest. Joachim setzt sein Studium an der TU fort, wird selbst zum Fluchthelfer, baut mit Kommilitonen Fluchttunnel: Im Herbst 1964 gelangen durch den Stollen zwischen Bernauer und Strelitzer Straße 57 Menschen in den Westen, darunter seine Freundin und spätere Frau Christa.
Tunnel werden später für Joachim Neumann Teil seines Beruf: Als Bauingenieur ist er an Projektierung und Ausführung des Tunnels unter dem Ärmelkanal und am Berliner Tiergartentunnel beteiligt. Heute wohnt der 72-Jährige in Charlottenburg, die Haare sind ungefärbt hellgrau geworden. Das Fazit seines Lebens? „Alle meine Wünsche haben sich erfüllt. Ich wollte selbstbestimmt leben, weder bevormundet noch nach irgend einer Doktrin. All das konnte ich. Und es begann zu Weihnachten vor 50 Jahren.“
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