
© Soany Guigand
Brandenburg: Das Glück zu leben
Abtreiben – wegen Down-Syndroms? Das kam für Fotodesignerin Soany Guigand nicht infrage. Eine Schau voll Liebe für Livy
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Das Ensemble mit den Kuscheltier-Mannschaften auf dem Fußballfeld blieb nicht lange so schön drapiert. „Livy hat schnell alle Spielsachen voller Freude durcheinandergebracht“, erinnert sich Soany Guigand. Eben ein ganz normales Baby.
Die 42-jährige Fotodesignerin aus Friedrichshain und Mutter dreier Kinder hat das erste Lebensjahr ihrer Tochter Livy mit Fotoinstallationen dokumentiert und ihr damit „gleichermaßen die Welt zu Füßen gelegt“. Sie lässt ihr Kind „Klippen umschiffen, Berge erklimmen und Lüfte erschwingen“, so formuliert es eine Freundin der Familie, Christiane Oehl, im Ausstellungstext. „Dein erstes Jahr – Ta première année“ heißt die Schau, die erstmalig am kommenden Dienstag gezeigt wird, dem 21. März, dem Welt-Down-Syndrom-Tag. Das Datum wurde in Anlehnung an den medizinischen Fachbegriff Trisomie 21 gewählt, seit 2012 ist der Tag offiziell von den Vereinten Nationen anerkannt.
Soany Guigand und ihr Lebensgefährte Stephan Jork gehören zu den wenigen Eltern, für die nach einer Untersuchung, bei der es einen Verdacht auf eine Behinderung gab, sofort klar war: „Wir wollten die von der Ärztin empfohlene Abtreibung nicht. Mir war völlig klar, ich will das Kind haben. Ich guckte dann meinen Freund mit Fragezeichen in den Augen an, und er hat auch keine Sekunde daran gezweifelt, das Kind zu behalten.“
Livy ist heute fünf Jahre alt, Nino, der Jüngste, ist drei. Guigands älteste Tochter aus einer früheren Beziehung, die 19-jährige Naomi, liebt ihre Schwester auch über alles. Bei der Entscheidung für Livy, der eine möglicherweise weit schwerere Behinderung vorhergesagt worden sei, habe vielleicht „auch eine gewisse Portion Naivität eine Rolle gespielt“, sagt Soany Guigand lächelnd. „Aber ich lebe im Moment und wollte nicht antizipieren, was alles hätte passieren können.“
Sie bekommt immer wieder menschenverachtende Kommentare zu hören. Oder erlebt Momente wie diesen, als sie auf dem Bahnsteig steht und zwei ältere Frauen sich nach dem Anblick ihrer Tochter umdrehen und sich zuraunen, das müsse ja alles sehr schwer sein. „An guten Tagen möchte ich ihnen dann zurufen: Nehmen sie meine Tochter ruhig auf den Arm, sie wiegt 23 Kilo, wie schwer das wohl sein mag?“ An guten Tagen schob sie den Kinderwagen trotz der mitleidigen Blicke dann erst recht noch stolzer weiter. An schlechten Tagen verletzt so was, dann möchte sie sich am liebsten in ein Schneckenhaus zurückziehen.
Jetzt macht sie aber das Gegenteil und geht mit ihrer Fotoschau bewusst an die Öffentlichkeit. Soany Guigand möchte Livy, so heißt es in der Beschreibung zu der Fotoschau, stellvertretend für alle Kinder, die unter besonderen Bedingungen aufwachsen, Abenteuer, Bewältigung und Befreiung erleben lassen: „In einer Welt, in der eine Befreiung von Grenzen bereits stattgefunden hat. Auch von Grenzen, die möglicherweise nur in unseren Köpfen überdauern. Guigands visualisierter Wunsch einer Mutter für ihre Tochter: Das große Glück zu finden und alle Ängste zu überwinden!“
Die Familie ist glücklich, und Livy habe zwar Schwierigkeiten zu sprechen, aber könne dafür wunderbar drei Sprachen verstehen: Französisch, Deutsch und die Gebärdensprache. Sie hält links eine imaginäre Banane und schält sie mit der rechten Hand, wenn sie eine will. Oder führt das erwünschte Glas bildlich an den Mund, wenn sie etwas trinken möchte.
Dabei, selbstverständlich mit dem eigenen Kind umzugehen, das die Eltern ja ganz normal lieben, stärken die Elterngruppen der Lebenshilfe Berlin, erzählt die selbstständige Fotodesignerin. „Da haben wir uns ganz verstanden gefühlt, da kann jeder reden, ohne Rücksicht zu nehmen“, sagt die Wahlberlinerin, die vor 22 Jahren aus Frankreich kam und Fotodesign am Lette-Verein studierte.
„Bei Menschen mit Down-Syndrom ist das Chromosom 21 drei Mal statt zwei Mal vorhanden“, erklärt Christiane Müller-Zurek von der Lebenshilfe gGmbH. In Deutschland leben etwa 55 000 Menschen mit Down-Syndrom, in Berlin seien es rund 2000. Wenn es im Zuge der Pränataldiagnostik festgestellt werde, führe die Diagnose in den meisten Fällen zu einem Schwangerschaftsabbruch. Zurzeit wird laut Müller-Zurek beraten, ob der sogenannte Praena-Test, ein einfacher vorgeburtlicher Bluttest auf Down-Syndrom, zu einer Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen werden soll. „Die Lebenshilfe sieht den Test als Reihenuntersuchung in der Schwangerschaft kritisch, weil das Leben mit Behinderung diskriminiert wird“, sagt sie. Auch am Welt-Down-Syndrom-Tag wolle man deutlich machen, „dass Menschen mit Behinderung mitten im Leben stehen und Teil unserer Gesellschaft sind“.
Das ist auch Ziel der Fotoausstellung. Der Entschluss, die Bilder zu zeigen, hat Soany Guigand gefällt, als sie Lydia Martín Cortés und Max Flierl kennenlernte. Das Elternpaar zeigt in der Kombischau Aquarelle und Zeichnungen von ihrer ersten Tochter und deren Operationen unter dem Titel „Candelas Reparaturen“. Die beiden verarbeiten darin tagebuchartig zwei Operationen, die im ersten Lebensjahr ihres Babys vorgenommen wurden.
Die Bilder wurden direkt in der Klinik gemalt, sie zeigen die ersten Tage nach der Geburt, in denen die Eltern und ihr Neugeborenes nicht zusammen sein konnten. Candela wurde drei Tage nach ihrer Geburt wegen eines Darmverschlusses operiert. Sie musste einen Monat lang im Krankenhaus bleiben. Weitere Bilder entstanden, als Candela vier Monate alt war und ihr Herzfehler „repariert“ wurde.
Was wohl die kleine Livy sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie im Mittelpunkt einer Schau steht? Das haben sie schon mehrere Erwachsene gefragt, sagt Guigand, auch sie selbst. „Ja, ja, ja“, habe Livy fröhlich beim Blick auf die Bilder gesagt. Und den kleinen Bruder habe die Mutter damit getröstet, dass er ja noch nicht auf der Welt war, als die Fotos entstanden. „Ich selbst hätte mich gefreut, wenn ich solche Fotos von mir aus Kindertagen gehabt hätte“, meint die 42-Jährige. Viele der Kinder aus Livys Kita freuten sich schon auf die Schau.
Heute leben, im Moment leben. Dabei gebe ihr vor allem ihr Partner Kraft, der sich als ebenfalls selbständiger Druckingenieur viel Zeit für die Familie nehme. Und es erfüllen sie auch Situationen wie diese: „Einmal habe ich Livy in der Bahn ein Kinderbuch fertig vorgelesen.“ Da habe die Frau auf dem Nachbarsitz gefragt, ob sie Livy etwas vorspielen dürfe. „Sie holte eine große Harfe heraus, Livy sang und tanzte und der ganze Zug kam fröhlich miteinander ins Gespräch. Das war wunder-wunderschön.“
Annette Kögel
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