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Fleißig. Nour und ihr Vater Mahmoud beim Hausaufgabenmachen.

© Patrick Pleul/dpa

Brandenburg: Das neue Leben von Nour

Nour ist zehn und geht in die 4. Klasse, eigentlich normal für ihr Alter. Doch sie lebt erst seit dem Frühjahr im Oderbruch-Ort Golzow. Dort half sie dabei, den Standort der Grundschule zu bewahren

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Golzow - Wenn Nour lacht, ist das einfach ansteckend. Die Zehnjährige wirft den Kopf mit den bis zur Hüfte reichenden dunklen Haaren zurück, öffnet den Mund und strahlt glucksend pure Lebensfreude aus. Das syrische Flüchtlingsmädchen hatte in den vergangenen 15 Monaten jede Menge Grund zu lachen. „Emily, Maja, Sara“, zählt sie in fast akzentfreiem Deutsch auf Anhieb zehn Freundinnen auf, die sie in ihrer neuen Heimat Golzow (Märkisch-Oderland) gefunden hat. Am liebsten geht sie Eis mit ihnen essen.

Wenn Nour sich an den Rest ihrer bisherigen Kindheit erinnert, wird sie allerdings schlagartig ernst. Ihre dunkelbraunen Augen wirken traurig. Gemeinsam mit den Eltern und den zwei jüngeren Geschwistern war sie 2012 aus ihrer Heimat, einem Vorort von Damaskus, vor dem Krieg geflohen. Vater Mahmoud Alahmad Alhammash zeigt auf seinem Handy Fotos ihres zerstörten Hauses. „Dort steht inzwischen nichts mehr“, sagt der 35-Jährige. Zwei Jahre lebte die Familie in Libyen, bis der Krieg sie einholte. Übers Meer ging es nach Italien. 350 Flüchtlinge auf einem nur 16 Meter langen Boot, stundenlang bei Temperaturen um 40 Grad, erzählt der Vater weiter. Noch später in Golzow hätten die Kinder davon Albträume und Panikattacken bekommen.

Nächste Station in Europa war für die Familie Schweden. Von dort sollte sie in das sichere Drittland Italien zurück. Die Zugfahrt endete jedoch in Eisenhüttenstadt, in Brandenburgs zentraler Ausländerbehörde. Wenige Wochen später kam die Familie nach Golzow, bezog eine freie Wohnung in einem Mehrfamilienhaus mitten in dem 800-Seelen-Ort.

Bürgermeister Frank Schütz (CDU) hatte sich für die Aufnahme von Flüchtlingsfamilien in seinem Ort stark gemacht. „Zuwanderung ist immer eine Chance“, sagt er. In diesem Fall war es im vergangenen Jahr die Möglichkeit zum Erhalt der nur einzügigen Golzower Grundschule. Um eine neue erste Klasse aufmachen zu können, fehlten Schüler. Nour sowie die Geschwister Kamala (10) und Bourhan (8) aus der zweiten syrischen Familie lösten das Dilemma.

„Vor allem die beiden Mädchen machten schnell Fortschritte“, erinnert sich Schulleiterin Gabriela Thomas. Sie beschreibt Nour als sehr intelligent, fleißig, freundlich und einfühlsam. „Sie ist bei den anderen Schülern total beliebt“, sagt die Pädagogin. Für sie war es am Ende des Schuljahres klar, dass Nour nach den Sommerferien ihrem Alter entsprechend gleich in die 4. Klasse versetzt wird.

„Sie packt das“, sagt die Schulleiterin. „Ich kann das schaffen“, sagt auch das syrische Mädchen und nickt. Wohl wissend, dass es neben Deutsch nun auch noch Englisch als zweite Fremdsprache büffeln muss. Doch Nour lernt schnell, wie ihre Lehrer bestätigen. „Ich lese mir das dreimal durch und dann habe ich es in meinem Kopf“, sagt sie lächelnd. In der Schule mag sie alle Fächer, wie sie versichert.

Das syrische Mädchen, das inzwischen deutsche Milchnudeln liebt und gern eine Katze als Haustier hätte, fühlt sich angekommen in Golzow. Es geht gern mit dem Vater angeln oder hilft ihm im neu erstandenen Kleingarten. Auch ihre Eltern fühlen sich heimisch, vor allem aufgrund der überwältigenden Hilfsbereitschaft der Golzower. „Unsere Nachbarn sind unsere neue große Familie“, schwärmt Mutter Mervat.

Anfangs habe sie mit Mann und Kindern lieber in einer großen Stadt wie Berlin leben wollen, bekennt sie. Doch inzwischen hat die Familie das beschauliche Landleben zu schätzen gelernt. „Wenn du Hilfe brauchst, bekommst du sie, denn man kennt sich. Für die Kinder sind Schule und Kindergarten ganz in der Nähe. Spielen sie draußen, brauche ich keine Angst um sie zu haben“, schildert die 29-Jährige. Gemeinsam mit ihrem Mann büffelt sie noch bis Oktober im Deutschkurs.

Mahmoud beginnt anschließend bei einer Golzower Firma ein Praktikum mit der Option einer dauerhaften Beschäftigung – er ist gelernter Fliesenleger. Mervat träumt von einer Ausbildung zur Friseurin. Nour hingegen hat größere Ziele. „Ich will Ärztin werden“, sagt die Zehnjährige mit verblüffender Selbstverständlichkeit. Einig ist sie sich mit den Eltern, in ihrer neuen Heimat Golzow bleiben zu wollen – auch wenn die Aufenthaltserlaubnis der Familie zunächst auf drei Jahre befristet ist.

Jeanette Bederke

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