Brandenburg: Der Mutige
Nasser El-A. ist schwul. Vater und Onkel entführten ihn, wollten ihn zwangsverheiraten – für die Familienehre. Doch er brachte sie vor Gericht. Sie wurden zu Geldstrafen verurteilt
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Es gehört schon einiges dazu, die eigenen Eltern vor Gericht zu bringen. Nasser El-A. hat es getan. Der junge Mann ist mutig: Im Alter von 15 Jahren outete er sich als schwul, obwohl ihm klar war, was das im Kulturkreis seiner Eltern bedeutet. „Mein Vater hat gesagt, dass er mir eigenhändig ein Messer in den Hals rammen wird“, sagt Nasser, dessen Familie aus dem Libanon stammt. Homosexualität sei im Islam eine Sünde, davon sei die Familie überzeugt. Nach seinem Outing ist er von zu Hause weggelaufen, weil er um sein Leben fürchtete. „Als ich weggelaufen bin, wusste ich nicht, wohin ich kann“, sagt Nasser. „Familie ging nicht, Polizei auch nicht, denn meine Eltern hatten mir eingetrichtert, dass die Polizei einen immer wieder nach Hause bringt.“
Auch Nassers Familie wollte ihn verheiraten, um den Schein zu wahren. „Ich will aber nicht das Leben einer Person leben, die ich nicht bin“, sagt der 18-Jährige. Nach der Sache mit der Heirat verhängte das Familiengericht eine Auslandssperre, weil der Vormund eine Entführung fürchtete. Das rettete Nasser. Er hatte sich an Papatya gewandt – eine Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen, bei der mangels Alternativen auch Jungen und junge Männer nach Hilfe fragen.
Nasser ist durch die Sehnsucht nach seiner Familie in Gefahr geraten. Als er mit seiner Mutter sprach und diese ihn nach Hause in die elterliche Wohnung in Neukölln einlud – der Vater sei auf der Arbeit –, ging er hin. Das war am 10. Dezember 2012. Er trank etwas und kam in einem Auto neben seinem Vater und zwei Onkel wieder zu sich. Weil ihn Sozialarbeiter vermissten, lief eine Fahndung an. Erst an der bulgarisch-rumänischen Grenze flog zwei Tage später alles auf, weil die Grenzer aufmerksam waren, genau wie zuvor der Vormund, der die Auslandssperre erwirkt hatte.
Nun sollte es zum Prozess gegen seinen Vater und zwei Onkel kommen. Nasser, Nebenkläger im Prozess gegen seine Verwandten, hat sein Schicksal öffentlich gemacht – auch als Schutz. Nun drängten sieben Kamerateams und zahlreiche Pressevertreter in den Gerichtssaal. Nasser kam mit vielen Freunden. Sein Lachen klang unbeschwert, sein Blick aber verriet die Anspannung. Er ging zur Nebenklage-Bank, auf seinem Hemd ein großer Sticker: „Stop Homophobia!“ Doch von den Angeklagten keine Spur. Die drei Männer ließen sich am Donnerstag im Saal 701 des Moabiter Kriminalgerichts nicht blicken. Keine fünf Minuten später war es vorbei. Obwohl die Angeklagten fehlten, gab es ein Urteil. Auf Antrag des Staatsanwalts ergingen per Strafbefehl jeweils 1350 Euro Strafe wegen Freiheitsberaubung und Entziehung Minderjähriger gegen die 43- und 36-jährigen Männer. „Ihnen werden zudem die Kosten der Nebenklage auferlegt“, beendete die Richterin den kurzen Termin.
Nasser, heute 18 Jahre alt, verließ den Saal schnellen Schrittes. Er kämpfte mit den Tränen, brauchte einige Minuten für sich. Dann hatte er sich gefasst und sah mit festem Blick in die Kameras. „Ich habe damit gerechnet, dass sie nicht kommen, ich habe meine Kraft gezeigt, ich habe wenigstens geschafft, dass die Sache vor Gericht gekommen ist, viele kommen nicht so weit“, sagte er. Das Urteil wolle er nicht kommentieren. Die Richterin habe geurteilt, „wie sie es für richtig hält“.
Das viele andere Leid, das seine Familie ihm angetan hat, ist kaum zu beweisen und spielte vor Gericht auch keine Rolle: Ein Onkel habe ihn mit Benzin übergossen, die Eltern hätten ihn ausgepeitscht und mit kochendem Wasser übergossen. Die Entführung hingegen ist gut dokumentiert.
Ob es einen neuen Gerichtstermin geben wird, ist offen. Die Angeklagten können innerhalb von zwei Wochen Einspruch gegen die Verurteilung zu Geldstrafen von jeweils 90 Tagessätzen zu je 15 Euro einlegen. Zwei Verteidiger erklärten allerdings, sie würden ihren Mandanten empfehlen, die Entscheidung zu akzeptieren. Das käme einem Schuldeingeständnis gleich.
Nasser lebt inzwischen anonym in einem betreuten Jugendwohnprojekt; zur Schule geht er unter falschem Namen. Er will den mittleren Schulabschluss machen und Flugbegleiter werden. Man kann eine Sehnsucht nach „ganz weit weg“ in diesen Berufswunsch hineinlesen. Das letzte Mal blickten sich Vater und Sohn reglos auf einer Demo in die Augen – gegen Homophobie. Nasser hatte sie organisiert.
Kerstin Gehrke
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