„UNGEHEURER VERDACHT“: Der offene Brief der Staatsanwälte an Justizsenatorin Gisela von der Aue Staatsanwälte rügen Senatorin
Berufsvereinigung: Von der Aue verhielt sich unangemessen gegenüber Chef der Intensivtäterabteilung
- Sabine Beikler
- Jörn Hasselmann
Stand:
„Sehr geehrte Frau Senatorin von der Aue,
der Vorstand der Vereinigung Berliner Staatsanwälte (VBS) hat die Mitglieder der ,Intensivtäterabteilung zu dem von Ihnen über die Presse erhobenen Vorwurf befragt, wonach die Äußerungen von Herrn Reusch im ,Spiegel vom 07.05.2007 ,den Eindruck erwecken, dass Untersuchungshaft verhängt wird aus Gründen, die nicht legal sind. Nämlich als Erziehungsmaßnahme gegenüber Intensivtätern. Das ist nicht zulässig.´
Wir haben folgende Antwort der betroffenen Staatsanwälte erhalten:
,Aus diversen Veröffentlichungen müssen wir entnehmen, dass sich die Senatorin für Justiz um die Rechtmäßigkeit unserer staatsanwaltlichen Tätigkeit und deren Darstellung in der Öffentlichkeit sorgt. Zur Klarstellung aus unserer Sicht möchten wir Folgendes anmerken:
1. Haftbefehle, die unter anderem auch gegen die überwiegend jugendlichen und heranwachsenden Intensivtäter von uns beantragt werden, werden von den zuständigen Richtern auf der Grundlage geltender Gesetze erlassen. Anderenfalls würden unsere entsprechenden Haftbefehlsanträge abgelehnt werden. Haftgründe sind dabei überwiegend Wiederholungs- und Fluchtgefahr.
2. Unsere Arbeit besteht darin, dem für den Erlass des Haftbefehls zuständigen Richter eine vollständige Tatsachengrundlage und ein möglichst umfassendes Bild von der Persönlichkeit des Beschuldigten zu unterbreiten. Es soll nämlich vermieden werden, dass der Erlass eines Haftbefehls lediglich deshalb abgelehnt wird, weil dem Gericht nicht alle notwendigen Informationen vorliegen (familiäres Umfeld, Vorleben, tatsächliche Anzahl der von dem Beschuldigten begangenen Straftaten). Dies ist durch die bisherige Zersplitterung der Zuständigkeiten bei der Staatsanwaltschaft immer wieder geschehen.
3. Selbstverständlich hat der Erlass und die Vollstreckung eines Haftbefehls auch erzieherische Wirkung! Dies ist zwar eine Nebenfolge des auf gesetzlicher Grundlage erlassenen Haftbefehls, ist aber durchaus erwünscht. Aus vielen Gesprächen mit Vertretern der Jugendgerichtsbarkeit ist bekannt, dass oftmals in den besonders hartnäckigen Fällen eine erzieherische Einwirkung erst mit der Herauslösung aus den bestehenden Banden- und Familienstrukturen möglich wird. Wer als Jugendlicher 30, 40 oder über 100 schwere Gewalttaten (Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung) begangen hat, wird anders nicht zu beeinflussen sein.
Dies hat Herr Oberstaatsanwalt Reusch im ,Spiegel vom 7. Mai 2007 zutreffend zum Ausdruck gebracht!
Wir bedanken uns für die klarstellenden Ausführungen der Abteilung 47. Sie waren zweifellos erforderlich; allerdings nicht etwa, weil nach der Lektüre des ,Spiegel-Artikels tatsächlich der Eindruck entstanden war, dass in Berlin rechtswidrig Haftbefehle gegen Intensivtäter erlassen würden, sondern weil Sie als Senatorin der Justiz diesen Eindruck erst konstruiert haben. Wer wird ernsthaft glauben oder auch nur den Eindruck haben, dass in Berlin seit Jahren von den Mitgliedern der ,Intensivtäterabteilung systematisch rechtswidrig Haftbefehle beantragt werden und diese von Ermittlungsrichtern unwissend, oder – schlimmer noch – als Teil einer Verschwörung vorsätzlich rechtswidrig erlassen werden (...) und nicht zuletzt die Verteidiger der Beschuldigten nichts von alledem bemerken?
Ihre Äußerungen sind nicht nur fern der Realität; sie stellen darüber hinaus auch alle Beteiligten, die an der Entscheidung über einen Haftbefehl gegen einen Intensivtäter beteiligt sind, unter einen ungeheuerlichen Generalverdacht. Die Betroffenen reagieren zu Recht mit Empörung. Einer vertrauensvollen Zusammenarbeit sind Ihre Äußerungen sicher nicht zuträglich.
Auch Ihr Umgang mit der Personalie Reusch ist inakzeptabel. Öffentliche Äußerungen zu personellen Einzelmaßnahmen sollten für einen Dienstherrn tabu sein, denn der betroffene Beamte hat keine Möglichkeit, sich öffentlich zu wehren.
Hochachtungsvoll
Vera Junker“
Berlin - Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) gerät unter Druck: Mit ungewöhnlich scharfen Worten hat die Vereinigung Berliner Staatsanwälte (VBS) in einem offenen Brief den Umgang von ihr mit Oberstaatsanwalt Roman Reusch gerügt. „Forsch am Ziel vorbei“ sei ihre Reaktion auf Äußerungen von Reusch, dem Leiter der Spezialabteilung für jugendliche Intensivtäter, gewesen. Durch von der Aue sei der Eindruck erweckt worden, dass „in Berlin rechtswidrige Haftbefehle erlassen werden“, sagte Oberstaatsanwältin und VBS-Vorsitzende Vera Junker, die selbst der SPD angehört.
Außerdem sei es „guter Brauch“, vor Äußerungen in der Öffentlichkeit über eine „Einzelpersonalie“ mit der betreffenden Person zu sprechen. Die Sprecherin der Justizsenatorin, Barbara Helten, sagte am Sonntag, das Schreiben der VBS liege von der Aue noch nicht vor.
Reusch hatte in einem Spiegel-Interview erklärt, die Untersuchungshaft sei auch ein „Erziehungsmittel“, um junge Serientäter zu disziplinieren. Reusch ist Chef der im Sommer 2003 gegründeten Intensivtäterabteilung. Deutliche Worte hat er noch nie gescheut: Anfang 2004 bekam Reusch Ärger, weil er seine Klientel als „kleine Klapperschlangen“ bezeichnet hatte. Die zehn Staatsanwälte der Abteilung haben derzeit 476 Seriengewalttäter in ihrer Kartei, der älteste von ihnen ist 1972 geboren, die jüngsten sind erst 13 Jahre alt. 80 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Bundesweit gilt Berlin als Vorreiter im Umgang mit jungen Gewalttätern. Mehrfach gab es großes Lob aus der Polizeiführung. Über die Kritik der Senatorin zeigt sich die Abteilung 47 auch verwundert: „Bislang wurden wir gehätschelt und gelobt, und jetzt diese Klatsche.“
Vera Junker hat zuletzt als Anklägerin im Bankenprozess die Verurteilung von Klaus Landowsky erreicht – und nach dem Prozess ein dickes Lob vom Regierenden Bürgermeister für ihre Hartnäckigkeit bekommen. Das SPD–Mitglied arbeitet seit 1992 in der Wirtschaftsabteilung der Staatsanwaltschaft.
Es ist nicht das erste Mal, dass von der Aue von eigenen Parteifreunden wegen ihres rigorosen Führungsstils kritisiert wird: Die Entlassung von Justizstaatssekretär Christoph Flügge Anfang Februar im Zuge der Medikamentenaffäre in der Haftanstalt Moabit kreideten ihr SPD-Parteifreunde als vorschnell an. Die eingesetzte Untersuchungskommission hat ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen. Auch in ihrem Fachgebiet muss sich von der Aue bewähren: Die Reformen im Justizbereich sind noch nicht abgeschlossen, die Personalsituation in der Just ist katastrophal, und die Bedingungen in den überfüllten Haftanstalten wurden mehrfach als verfassungswidrig geahndet.
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