Von Annette Kögel: Der schwere Kampf
Märkische Neonazis machten Noel Martin zum Pflegefall / Heute feiert der Brite seinen 50. Geburtstag
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Mahlow/Birmingham – Noel Martins Lebenswelt beschränkt sich seit zwei Jahren auf ein paar Quadratmeter im Keller seines Hauses. „Mein Schlafzimmer musste neben das Badezimmer verlegt werden, weil ich bettlägerig bin.“ Am heutigen Donnerstag will der Mann aus Birmingham alle Kräfte zusammennehmen, die Schmerzen wegstecken – und zur Feier des Tages endlich mal wieder im Rollstuhl mit Pflegern, Familie und Besuchern von der deutschen Botschaft in London „Tageslicht sehen und in ein Restaurant zum Essen, endlich mal mein Bett verlassen, ich freue mich darauf“. Der einstige Gastarbeiter aus England, den zwei Neonazis aus dem brandenburgischen Mahlow (Teltow-Fläming) durch eine fremdenfeindliche Attacke zum Pflegefall machten, begeht am 23. Juli seinen 50. Geburtstag.
Vorab gratulieren soll man nicht, das bringt Unglück – dieser Satz fällt einmal während des Telefonats vor dem großen Tag. „Bei mir kein Problem, noch mehr Unglück geht nicht“, sagt er da. Als Bauarbeiter war er Mitte der neunziger Jahre nach Deutschland gekommen, „um das Land nach dem historischen Mauerfall mit aufzubauen“. Dann trifft er am 16. Juni 1996 auf Sandro R., 17, und Mario P., 24. Sie beschimpfen ihn als „Nigger“, verfolgen ihn im gestohlenen Wagen. Die Täter werfen einen Feldstein in sein Auto, drängen es ab. Er prallt gegen einen Baum. Die Täter beschmieren noch den Haftraum des Landgerichts mit dem Spruch „Juden und Nigger an die Wand“. Martin ist vom Kopf abwärts querschnittgelähmt – wie lebendig begraben.
Seinen Lebensmut will er sich dennoch nicht nehmen lassen. Zehn Jahre Dasein auf Probe im Rollstuhl gibt er sich. Seine Frau Jacqueline ist für ihn da, bis sie an Krebs stirbt. Als Noel Martin öffentlich mitteilt, er werde sich am 23. Juli 2007 an seinem 48. Geburtstag mit Unterstützung der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Dignitas das Leben nehmen, wird das persönliche Schicksal zum Politikum. Er setzt den Entschluss nicht in die Praxis um, er kann es gar nicht, er ist nicht reisefähig. „Ich weiß auch nicht, was das ist, das mich bislang stoppte, den Stecker zu ziehen“, sagt Noel Martin nun, immer wieder hustet er schwach. „Vielleicht sind es meine beiden Enkelkinder, meine Leidenschaft fürs Gedichteschreiben, die Verse schicke ich auch zu Lesungen nach Brandenburg.“ Eines heißt „Yes we can“, mit den Zeilen: „white man, black man, woman, human“. Jeder Mensch ist liebenswert, unabhängig von der Hautfarbe, das ist die Botschaft, für die der heute 50-Jährige noch aus dem Pflegebett heraus kämpft.
Vor einem Jahr stand Brandenburgs Bildungsminister Holger Rupprecht an seinem Bett im Keller, während Noel einen Vertrag mit dem Stift im Mund unterschrieb, die Arme und Hände kann er nicht mehr bewegen: Am 14. Juli 2008 wurde die Gründung der brandenburgischen Noel- und Jacqueline-Stiftung besiegelt, hervorgegangen aus dem gleichnamigen Fonds, den die „Stiftung Großes Waisenhaus zu Potsdam“ betreut. Dort kann man sich mit Konzepten für Begegnungsreisen für Jugendliche aus Mahlow und Birmingham, aus Brandenburg und England bewerben. Ende August kommen wieder Jugendliche aus Noels Heimat hierher, die Brandenburger Sportjugend betreut den Austausch auch mit jungen Polen, die Engländer werden das frühere Konzentrationslager Auschwitz besuchen.
Wie gerne wäre Noel Martin dabei, Doch er hatte mehrere Operationen, weil die Haut wundgelegen ist; seine Ausscheidungsorgane mussten direkt mit dem Magen verbunden werden. Martin hätte so gerne einen Spezialrollstuhl, den er sich aber nicht leisten kann. „Von all diesen unmenschlichen Qualen hätte die Öffentlichkeit nie etwas erfahren, wenn sein ursprünglich geplanter Freitod nicht so einen Medienhype ausgelöst hätte und Noel dadurch zu einer öffentlichen Person wurde“, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin der Potsdamer Waisenhaus-Stiftung, Gesine Hanebuth-Schubert, „das hat viele auch erschüttert, weil es den modernen Zeitgeist entlarvt“.
Martin kämpfte während seiner Besuche in Mahlow, in TV-Studios gegen Rassismus. Sein Geburtstagswunsch? „Ach“, sagt er, und lacht, „ich würde gern Millionen gewinnen und Rennpferde züchten, das ist doch mein Hobby.“
Informationen zur Stiftung:
www.noel-martin.de
Annette Kögel
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