Von Hannes Heine und Claudia Keller: Der Täter wurde weitergereicht
Lehrer Wolfgang S. wechselte nach Missbrauchsfällen von Berlin an andere Jesuitenschulen – die Oberen schwiegen
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Berlin - Nach den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin hat die Staatsanwaltschaft geprüft, ob sich auch die Kirchenleitung strafbar gemacht habe. „Weder für unterlassene Hilfeleistung, noch Strafvereitelung oder Verletzung der Fürsorgepflicht gibt es derzeit Anhaltspunkte“, sagte Behördensprecher Martin Steltner. Bisher sei nicht zu erkennen, dass die Oberen des Jesiutenordens, der die Eliteschule betreibt, den Missbrauch von Schülern geduldet hätten. Die Staatsanwaltschaft prüft noch, ob die Übergriffe von zwei ehemaligen Lehrern auf 20 Schüler vor allem in den 70er Jahren heute noch strafrechtlich verfolgt werden können. Vieles spräche dafür, dass die Taten verjährt sind, sagte Steltner.
Pater Karl-Heinz Fischer, der das Canisius-Kolleg in den Jahren von 1981 bis 1989 und nochmals 1994 bis 1996 als Rektor leitete, sagte, er habe während seiner Amtszeiten nicht von Missbrauchsvorwürfen erfahren. „Ich bin auch nie auf die jetzt öffentlichen Missbrauchsfälle angesprochen worden“, sagte Fischer dieser Zeitung. Acht Ex-Schüler hatten 1981 an das bischöfliche Ordinariat und an die Schule einen Klagebrief geschrieben. Auch von diesen Brief habe Fischer eigener Auskunft zufolge nie etwas gehört. Während Fischers Amtszeit war der inzwischen in Südamerika lebende Wolfgang S. nicht mehr an der Schule tätig – er wechselte 1979 zunächst an die Hamburger Jesuitenschule. Der ebenfalls unter Missbrauchsverdacht stehende Religionslehrer Peter R. ist jedoch erst kurz nach Fischers Amtsantritt 1981 versetzt worden. „Das Gesamtbild hat ergeben, dass R. für die Jugendarbeit ungeeignet gewesen ist“, sagte Fischer. Über den Lehrer hätten sich Schüler beschwert, Fischer habe dann gesehen, dass R. nicht mehr an der Schule arbeiten könne. Konkrete Gründe dafür will er nicht nennen. Er habe seinen damaligen Vorgesetzten, den Jesuitenchef für Norddeutschland und Ex-Rektor, Pater Rolf Dieter Pfahl, benachrichtigt. Dieser habe angeordnet, den verdächtigen Pädagogen zu versetzen.
Offenbar setzte Wolfgang S. die sexuellen Übergriffe auf Schüler auch nach seiner Vesetzung fort. Auch in Hamburg meldeten sich drei ehemalige Schüler, an denen sich S. früher vergriffen haben soll, erklärte der Leiter des Hamburger Sankt- Ansgar-Gymnasiums. An der ebenfalls vom Jesuitenorden geleiteten Schule war Wolfgang S. nach seinem Weggang aus Berlin ebenfalls als Lehrer eingesetzt worden. Zwei Betroffene hätten sich bei der Schulleitung gemeldet, ein weiterer Mann beim Bistum in Hamburg, hieß es am Montag. Einer der ehemaligen Schüler habe zu verstehen gegeben, dass mit dem Bekanntwerden weiterer Opfer zu rechnen sei.
Auch andernorts mehren sich die Hinweise auf sexuelle Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen. Am Kolleg Sankt Blasien im Schwarzwald geht der Ex-Direktor des Hauses, Pater Hans Joachim Martin, von zahlreichen Übergriffen aus. Es habe im Jesuitenorden und im Kolleg Sankt Blasien früher Vorfälle sexuellen Missbrauchs gegeben, die unter den Tisch gekehrt worden seien. In den 80er Jahren soll auch Wolfgang S. dort tätig gewesen sein, der Berliner Pater habe sich ihm gegenüber offenbart, sagte Martin, der das Kolleg von 1977 bis 1987 leitete. Er habe die Ordensleitung informiert, und S. habe die Schule 1984 verlassen. Dennoch arbeitete er unbehelligt in kirchlichen Einrichtungen in Südamerika – bis er sich 1991 an die Kirchenoberen wandte und seine Taten reumütig gestand.
Mehrere Ex-Schüler katholischer Elitegymnasien berichteten dieser Zeitung am Montag von gezielten Demütigungen und üblichen Prügelstrafen. Schläge als Erziehungsmittel sind in der Bundesrepublik seit 1973 verboten. Doch noch Mitte der 80er habe es, berichtete ein Berliner Jurist, an einem katholischen Kollegium am Niederrhein regelmäßig Ohrfeigen und Schläge gegeben. „Prügelnde Lehrer waren völlig normal“, sagte der Mann, der die Schule bis zur neunten Klasse besucht hatte.
Katholische Jugendverbände und der Jugendseelsorger des Erzbistmus Berlin bemängelten die Sprachlosigkeit, die zwischen der Katholischen Kirche und der Lebenswirklichkeit junger Menschen in Bezug auf das Thema Sexualität herrsche. „Ich würde mir wünschen, dass sich die Amtskirche mit der Lebenswelt der Jugendlichen auseinandersetzt, auch mit der Art und Weise, wie sie Sexualität leben, ohne gleich mit Moral und Verboten zu kommen“, sagte Dirk Tänzler, Chef des Bundes der deutschen katholischen Jugend. Besonders das Thema Homosexualität werde „sehr angstbesetzt“ behandelt, sagte Tänzler. „Meist wird weggeschaut nach dem Motto: Das gibt’s bei uns nicht.“ Auch in der Ausbildung der Kleriker müsse mit Homosexualität offener umgegangen werden. „Für uns Jugendverbände, die versuchen, die Inhalte der katholischen Kirche in die säkulare Welt zu vermitteln, sind Missbrauchsfälle wie am Canisius-Kolleg ein Tiefschlag.“
Auch der Rektor des Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, hatte die Kirche kritisiert. Die katholische Lehre zur Sexualität habe sich weit vom Alltag junger Menschen entfernt. Matthias Goy, Jugendseelsorger im Berliner Erzbistum, kritisierte, dass Homosexualität in der katholischen Kirche „tabusiert“ wird. Im Katechismus stehe zwar, dass Homosexuelle nicht diskriminiert werden sollen. „Aber die Realität sieht oft anders aus“, sagte Goy.
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