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Brandenburg: Der Traum von Brot, Wohlstand und Schönheit
Premnitz im Havelland, das war zu DDR-Zeiten das Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“. Vom gelebten Alltag in der Kleinstadt in den 1980er Jahren erzählt ein privates Tagebuch. Zusammen mit Stasi-Akten und Zeitzeugen-Interviews ist es nun öffentlich
Stand:
Eine Stunde Fahrt mit der Regionalbahn von Potsdam entfernt liegt Premnitz. Das Städtchen hat heute knapp 9000 Einwohner, 1990 waren es ein Drittel mehr. Dederon, Wolpryla und Grisuten sind die Begriffe, mit denen sich der Aufstieg der Gemeinde zur Stadt in den 1960er Jahren verbindet – Stoffe, die entwickelt wurden, um die DDR-Textilindustrie unabhängig zu machen von teuren Baumwollimporten. Zeitweise über 7500 Menschen arbeiteten bis zum Umbruch 1989/90 im Premnitzer Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“. Das „CFP“ war, wie in der DDR üblich, weit mehr als Arbeitgeber im heutigen Sinne: Kinderbetreuung, Ferienheime, Werkswohnungen organisierte der Betrieb, in der Freizeit feierten viele mit ihren Brigaden. Über zwei Jahre, 1983 und 1984, dokumentierte Hubert Biebl, Chemieingenieur im CFP, seinen Alltag in einem Tagebuch. Er stellte die privaten Notizen auf Bitten seiner Frau ein, die Repressionen für den Fall befürchtete, dass die „Kalenderblätter“ in die falschen Hände gerieten. Eingeleitet durch die Ausführungen der Historikerin Jeanette Madaràsz-Lebenhagen sind diese Alltagsbetrachtungen nun erschienen. Die Aufzeichnungen Biebls werden von weiteren Quellen flankiert: Von Eingaben aus dem Werk an die Potsdamer Bezirksverwaltung, von den Berichten eines „IM Melcher“ an die Stasi und von Auszügen aus Zeitzeugen-Interviews aus dem Jahr 2005.
Liest man die Aufzeichnungen Biebls und die IM-Berichte heute, so wird vor allem deutlich, wie sehr sich die Selbstverständlichkeiten in den vergangenen 20 Jahren verändert haben: Kann es wirklich sein, dass für das Jahr 1984 – wie Biebl entrüstet festhielt – kaum Kalender zu haben waren? Dass er ganze Tage in seinem Büro mehr oder weniger schlafend oder Romane lesend verbrachte? Dies war nicht etwa deshalb der Fall, weil es nichts zu tun gegeben hätte, sondern deswegen, weil kein Geld für die dringend notwendigen Maßnahmen und Modernisierungen vorhanden war. So blieb alles beim Alten – und der Techniker arbeitslos in seinem Büro. Ebenfalls zum Alltag gehörte eine Vielzahl von als unnötig empfundenen Versammlungen. Biebl notierte, dass ihn jedes Mal, wenn er einen Versammlungsraum betrete, eine „unvorstellbare Müdigkeit“ übermanne. Selbst das Wissen darum, dass die Kollegen seine vergeblichen Versuche, dagegen anzukämpfen, mit Belustigung verfolgten, ändere daran nichts. Dagegen hebt der langjährige CFP-Direktor 2005 hervor, dass die vielen Versammlungen während der Arbeitszeit die Produktivität erheblich gemindert hätten. Hinzugekommen sei der ungeheuer hohe Krankenstand unter den Arbeitern und die selbstverständliche Bummelei jener, die bei Schichtende schon bei Kaffee und Kuchen zu Hause saßen.
„Brot, Wohlstand und Schönheit?“ Selbst wenn das Premnitzer Werk Anteil an der Umsetzung des mit viel propagandistischem Tamtam begonnenen Chemieprogramms haben sollte, hatte es doch nie die Bedeutung wie beispielsweise das Kombinat in Schwedt. Dies schlug sich insbesondere in der Versorgung der Premnitzer Bevölkerung nieder: Biebl beklagte das stets klägliche Angebot an Obst und Gemüse – zumindest, wenn es um „exotischere“ Sachen wie Tomaten, Erdbeeren oder Weintrauben ging. Als seine Frau im September 1984 in der Bäckerei Brötchen und Vollkornbrot im Angebot sah, habe sie ihren Augen kaum getraut und als es dann in der Metzgerei zusätzlich noch Kalbsgulasch gabt, habe sie gar an ein Wunder geglaubt – bis sich herausgestellt habe, dass die üblichen Geschenke zum Jahrestag der Republik dieses Mal verfrüht ausgeliefert worden waren. Eine solche „Überversorgung“ war in Orten wie Premnitz absolut außergewöhnlich – bevorzugt beliefert wurden Berlin, Leipzig (zu Messezeiten!) und die Wismut AG, nicht aber die bloß für die Textilindustrie produzierenden Premnitzer Arbeiter und Arbeiterinnen.
Der Mangel schuf absurd anmutende Zustände, wie die Anschaffung eines Pferdefuhrwerks für den Bauhof des CFP Anfang 1983. Einer der ersten Einsätze war die Belieferung der Abteilung für Mechanisierung. Witze über den permanenten Mangel, über die ständige Ansteherei, Warterei waren verbreitet - keinen Spaß hingegen verstanden die Mächtigen, sobald sich jemand wirklich unangepasst zeigte. So wie Biebls Kollege Benno, der sich ein ums andere Mal der verordneten Teilnahme an den „Wahlen“ verweigert habe: „Viele Tiefschläge steckte er ein: Prämienkürzungen, Arbeitsplatzumsetzungen, mehrere Versuche, ihn zu entlassen, Verleumdungen, Demütigungen und Provokationen, die er zuletzt – dummerweise – mit Rundschlägen zu parieren suchte. Jetzt ist seine Kraft erschöpft. Am 6. Mai sind Kommunalwahlen. Er weiß: Diesmal geht er KO. Wohl darum hat er das Handtuch geworfen. Gestern sah ich auf seinem Schreibtisch den Aufsteller: Ich will nicht länger Bürger der DDR sein.“
Auch wenn ein Großteil der Premnitzer vom CFP abhängig war, mochten sie sich doch nicht ohne Weiteres mit dem Dreck, den insbesondere das Aktivkohlewerk verursachte, abfinden. Eingaben belegen, wie Einzelne versuchten, wenigstens einen Zuschuss zu den anfallenden Reinigungskosten zu erlangen – erfolglos. Das Aktivkohlewerk stammte aus dem Jahr 1935 – Biebl hielt in seinen Kalenderblättern fest, das es eigentlich längst hätte stillgelegt werden sollen. Die wirtschaftliche Misere ab Anfang der Achtziger Jahre aber schloss solche Stilllegungen aus. Modernisierungen unterblieben aus den gleichen Gründen, obwohl man wusste, dass die Arbeit im Werk und in dessen Umgebung krank machen konnte. Ein anderer Premnitzer bemerkte in einer Eingabe an die Bezirksleitung der SED ironisch: „Ich bin voll bereit, alles Gute anzuerkennen, aber ich kann mich andererseits des Eindruckes nicht erwehren, dass an einigen Stellen unseres Werkes erst vor etwa 2 Wochen der 2. Weltkrieg sein Ende gefunden hat.“
Auch in anderen Produktionsbereichen lauerten Gefahren. Zu den giftigen Stoffen, denen die Arbeiter ausgesetzt waren, gehörte der hochgiftige Schwefelkohlenstoff – eine Substanz, die bei der Viskose-Herstellung (Handstrickgarn REGAN) entstand und die in früheren Zeiten als Rattengift eingesetzt worden war. Zum Schutz der Arbeiter überlegte man eine Arbeitszeitverkürzung auf sechs Stunden täglich, denn auch in Potsdam galt die Anno 1952 eröffnete REGAN-Spinnerei 1986 als „Schwerpunkt“ – also als problematischer Betriebsteil, den man besonders im Auge behalten müsse. Schon seit 1979 lief die Anlage nur noch mit einer Ausnahmegenehmigung des Gesundheitsministers. Alternativ dachte man die zwangsweise Versetzung der Arbeiter nach 15 Jahren – also bevor sich die Anzeichen einer Berufskrankheit abzuzeichnen begannen. Grundsätzlich sollte man zwar von Überstunden absehen, aber geleistet werden mussten sie nichtsdestotrotz. Die gesundheitsgefährdenden Zusatzstunden übernahmen verstärkt die mosambikanischen Vertragsarbeiter.
Die Verantwortlichen in Potsdam und Berlin waren über die prekären Arbeitsverhältnisse an der Havel gut informiert: Unter anderem berichtete der Informelle Mitarbeiter Sicherheit (IMS) „Melcher“ ausführlich über die Stimmung im Kollegenkreis, über Produktionsprobleme und auch über seinen ganz persönlichen Frust angesichts des zunehmenden Stillstands – anscheinend hatte „Melcher“ geglaubt, durch seine IM-Tätigkeit Verbesserungen bewirken zu können. Zur Stimmungslage in der Forschungsabteilung teilte er seinen Auftraggebern 1983 mit: „Ich muß einschätzen, daß den jungen Mitarbeitern die Motivation schon seit Jahren fehlt, sich zu engagieren, da die Aufgaben und Erfolge auf die Leiter gezogen werden. Die jungen Leute suchen sich ihre Erfolge im privaten Bereich, bei Hobbies, Datschenbau u. a. so daß sie auch gelernt haben unzufrieden zu sein.“ Manch einem mochte in seiner Nische die nächste Enttäuschung bevorstehen – wenn beispielsweise kein Baumaterial zu haben war.
Wie sehr die alltäglichen Ärgernisse des DDR-Alltags bis heute verblasst sind, zeigen Auszüge aus Interviews aus dem Jahr 2005. So erinnert sich die Messwartenführerin W. zwar an die fehlende Reisefreiheit und an das unbefriedigende Warenangebot, stellt dem aber die fehlende soziale Sicherheit nach der Vereinigung gegenüber: Wohlstand und Konsumangebote seien für sie – einmal mehr – nur theoretisch vorhanden. In ihrem realen Leben spielten Fernreisen damals wie heute keine Rolle. Aus der Zeit vor 1989 erinnert sie sich vor allem an das kollegiale Miteinander, dem sie das verordnete Nichtstun ihrer Nach-Wende-Existenz gegenüberstellt. Eine Ingenieurin, Jahrgang 1945, erzählt dagegen auch von den weniger angenehmen Seiten des DDR-Berufslebens: von Parteiversammlungen neben der Arbeit und der Tatsache, dass nach Störungen und Havarien unvermeidlich die Suche nach den Schuldigen eingeleitet wurde. Bis 1989 vermutete die Stasi hinter jedem Produktionsstillstand westliche Sabotage – ein geradezu lächerlich anmutender Verdacht, bedenkt man die maroden Anlagen. Am schlimmsten jedoch sei der Besuch des Staatschefs Erich Honecker 1988, anlässlich der Inbetriebnahme der neuen Wolpryla-Anlage, gewesen, als alle Beschäftigten, verstärkt um Premnitzer Schüler, für den SED-Generalsekretär Spalier stehen mussten. Im Winter 1989 gehörten dessen bejubelte Auftritte der Vergangenheit an: Auch die SED-Parteiorganisation im CFP äußerte sich empört über das Ausmaß der Korruption in der DDR und sprach sich für „eine Reform des politischen Systems“ aus, in dem die SED fortan eine „gleichberechtigte Partei neben anderen“ sein solle. Schade, dass Hubert Biebl seine Gedanken in diesen Tagen nicht aufgeschrieben hat.
Elke Kimmel
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