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Gedenken an Neonazi: Deutschland gedachte der Neonazi-Opfer
UPDATE. Tausende Brandenburger beteiligten sich an der Schweigeminute für die Opfer der rechtsradikalen Terroristen der NSU. Und in Berlin fand Kanzlerin Merkel die richtigen Worte.
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Potsdam/Berlin - Tausende Brandenburger haben am Donnerstag mit einer Schweigeminute der zehn Opfer der Zwickauer Terrorzelle gedacht. In zahlreichen Kommunen standen um 12.00 Uhr Busse und Straßenbahnen still - auch in Potsdam, wo sich die Verkehrsbetriebe und die Verwaltungen an der Schweigeminute beteiligten. Auch beim Rundfunk Berlin-Brandenburg kehrte für eine Minute Stille ein. Landtag und Landesregierung legten in Gedenken an die Opfer rechtsextremistischer Gewalt eine Gedenkminute ein. Mitarbeiter des Landtages, der Landesregierung sowie von Unternehmen und Einrichtungen hielten im Gedenken an die zehn Toten der Zwickauer Neonazi-Terrorzelle für einen Moment inne. Zudem folgten Schulen, Kirchen und Verbände dem Appell des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Zugleich gab es in Berlin die zentrale Gedenkveranstaltung im Konzerthaus am Gendarmenmarkt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Daran nahmen auch Landtagspräsident Gunter Fritsch und mehrere brandenburgische Minister teil.
Im halbdunklen Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt war Bundeskanzlerin Merkel bei der Gedenkfeier für die Opfer des Rechtsterrors ans Podium getreten. Im maßvollen Licht der großen Kronleuchter klangen ihre Worte umso deutlicher: Es sei „besonders beklemmend“, dass die Angehörigen teils jahrelang unter falschen Verdächtigungen der Sicherheitsbehörden leiden mussten, sagt Merkel: „Dafür bitte ich um Verzeihung.“ Die Jahre vor der Aufklärung müssten ein „nicht enden wollender Alptraum“ gewesen sein, ergänzt sie vor den rund 1.200 Gästen der Veranstaltung, unter denen sich auch rund 80 Angehörige der Gewaltopfer befinden. Niemand könne die Jahre zurückbringen oder Schmerz, Zorn und Zweifel ungeschehen machen. Mit der Gedenkfeier solle aber auch gezeigt werden, dass die Angehörigen nicht länger allein mit ihrer Trauer dastehen.
Merkel wiederholt, was sie bereits im November nach der Aufdeckung der Mordserie gesagt hatte: Diese sei „eine Schande für unser Land“.
Sie verspricht, es werde alles getan, was dem Rechtsstaat möglich sei, „damit sich so etwas nie wieder wiederholen kann“.
Gedacht wird der zehn Opfer der im November aufgedeckten Mordserie der Zwickauer Terrorzelle. Sie soll in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen ermordet haben. Opfer waren Kleinunternehmer mit ausländischen Wurzeln sowie eine Polizistin. Der extremistische Hintergrund der Taten war von Verfassungsschutz und Polizei zunächst nicht erkannt worden.
Merkel warnt vor der „verheerenden Wirkung“ der Gleichgültigkeit: „Wir vergessen schnell, viel zu schnell.“ Intoleranz und Rassismus äußerten sich aber keinesfalls nur in Gewalt. Gefährlich seien auch diejenigen, „die Vorurteile schüren und ein Klima der Verachtung erzeugen“.
Semiya Simsek, deren Vater im September 2000 als erster von den Rechtsterroristen ermordet wurde, ist bei ihrer Rede ihre Verbitterung anzumerken: „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“, sagt die 25-Jährige unter Hinweis auf die Verdächtigungen, unter denen ihre Familie stand. Sie fragt, wie sie sich noch gewiss sein könne, dass Deutschland ihr zuhause sei, wenn dort Menschen zu Mördern würden, „nur weil meine Eltern aus einem fremden Land kommen“. Politik, Justiz, jeder Einzelne müssten verhindern, „dass das auch anderen Familien passiert“.
Ismail Yozgat aus Kassel, dessen Sohn 2006 ermordet worden war, dankt für das Angebot der Bundesregierung, die Angehörigen finanziell zu entschädigen: „Wir möchten aber seelischen Beistand.“ Er fordert die umfassende Aufklärung der Taten und die Einrichtung einer Stiftung im Namen der zehn Toten. Schließlich wünscht er sich, dass die Straße in Kassel, in der sein Sohn geboren und gestorben ist, nach diesem umbenannt wird: in Halit-Straße.
Auch zwei Töchter von Ermordeten kamen zu Wort. „Ich habe meinen Vater verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert“, sagte Semiya Simsek. Auf ihren Vater war am 9. September 2000 geschossen worden, der Blumenhändler starb später im Krankenhaus. Seine Tochter erinnerte an die Belastung, lange mit dem falschen Verdacht leben zu müssen. „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“ Simsek sagte, es sei für die Hinterbliebenen keine Lösung, Deutschland zu verlassen: „In meinem Land muss sich jeder frei entfalten können“, unabhängig von Nationalität, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht. Sie mahnte: „Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht.“ Gamze Kubasik, deren Vater 2006 in Dortmund erschossen wurde, sprach von der Hoffnung „auf eine Zukunft, die von mehr Zusammenhalt geprägt ist“. Dies solle eine Kerze symbolisieren, die beide junge Frauen zum Abschluss unter Beifall aus dem Saal trugen.
Zu den Teilnehmern der Feier gehörten Schulklassen und Sportvereine, die sich im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit engagieren. Vertreten war neben der gesamten politische Führung eine Delegation des türkischen Parlaments. Zu den Gästen gehörte auch der wahrscheinlich nächste Bundespräsident Joachim Gauck. Ursprünglich sollte das zurückgetretene Staatsoberhaupt Christian Wulff reden, von dem die Initiative für die Gedenkfeier ausgegangen war.
Brandenburgs Regierungschef Platzeck sagte anschließend: „Das war eine beeindruckende und vor allem notwendige Wortmeldung unserer Gesellschaft.“ Deutschland habe sich die Tragweite dieser neonazistischen Mordserie vor Augen geführt. Nicht zuletzt sei die Veranstaltung Verpflichtung, sagte Platzeck und fügte hinzu: „Mit der ganzen Macht des Rechtsstaates werden wir die Verbrechen ahnden und dafür sorgen, dass sich Derartiges nicht wiederholt.“ Zwtl.: Menschen besser schützen Innenminister Dietmar Woidke (SPD) sprach von einem „sehr berührenden Gedenken“. Die bundesweite Schweigeminute sei ein Zeichen des Mitgefühls gegenüber den Familien der Opfer und zeige, auf welcher Seite die große Mehrheit in Deutschland stehe. Es müsse nach Wegen gesucht werden, wie Menschen künftig noch besser geschützt werden, ergänzte Woidke und nannte ein Verbot der rechtsextremen NPD. Bei einem neuen Verbotsverfahren müssten jedoch die Hinweise des Verfassungsgerichts berücksichtigt und V-Leute des Verfassungsschutzes abgezogen werden. Sonst wäre das Risiko des Scheiterns zu groß.
Fritsch sagte, das stille Gedenken habe die tiefe Verachtung gegen die „verabscheuungswürdigen, hinterhältigen Verbrechen rechtsextremistischer Gewalt“ zum Ausdruck gebracht. „Wir verurteilen Gewalt, Fremdenhass und Rassismus. Wir treten für die Vielfalt, Offenheit, Toleranz und die demokratischen Werte und Prinzipien in unserem Land ein.“ Effektive Sicherheitsstrukturen, NPD-Verbotsbemühungen und die gesamtgesellschaftliche politische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus müssten eine Einheit bilden.
Zwtl.: Für ein NPD-Verbot Sozialminister Günter Baaske (SPD) gedachte gemeinsam mit etwa 130 Mitarbeitern vor dem Regine-Hildebrandt-Haus der Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe. Auch er sprach sich für einen neuen Anlauf zum Verbot der NPD aus. Die rechtsextreme Partei im „demokratischen Deckmäntelchen“ bereite den Boden für rechtsextreme Gewalt. Die bundesweite Gedenkminute sei ein ganz wichtiges Signal, das „die Herzen rührt und die Köpfe öffnet“.
CDU-Generalsekretär Dieter Dombrowski sagte, jedes Opfer extremistischer Gewalt sei eines zu viel. Die CDU trauere mit den Hinterbliebenen. Die Verbrechen müssten lückenlos aufgeklärt werden.
Die Mitarbeiter der Potsdamer Stadtverwaltung versammelten sich vor dem Rathaus. Unter dem Motto „Potsdam bekennt Farbe“ werde ein Zeichen gegen Rechtsextremismus, Fremdenhass und Antisemitismus gesetzt, sagte Oberbürgermeister Jann Jakobs. Der SPD-Politiker nannte Potsdam eine „Stadt der Toleranz und des friedlichen Miteinanders“, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion füreinander einstehen. Überall - am Arbeitsplatz, in Vereinen, Schulen oder Familien - müsse jeder Anflug von Fremdenhass unterbunden werden.epd/dapd/pnn
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