Claus-Dieter Steyer, Görlitz, Spremberg und Cottbus: Die Neiße drückte durch die Fensterscheiben
Die große Flut hat weite Teile Sachsens überschwemmt, die Katastrophe aber blieb aus
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Plötzlich ging es blitzschnell. Gerade noch lief der Besucher im Pückler-Park in Bad Muskau entlang des Weges, die Neiße neben sich. Dann kam plötzlich der Hochwasserscheitel. Auf einen Schlag tritt die Neiße über die Ufer, Wege und Wiesen verschwinden, verwandeln sich in Seen. Erst steht der Besucher fünf Zentimeter im Wasser, dann zehn. Verblüfft schaut er den einzigen Menschen in der Nähe an, ein Polizist. „Das ging aber flott“, sagt der Beamte verblüfft und schaut den Besucher an. Stetig steigt der Pegel, es wird Zeit zu verschwinden. Das Kellergeschoss des Neuen Schlosses läuft voll. „Wir haben aber schon im Laufe des Sonntags alle technischen Geräte ausgeräumt und in Sicherheit gebracht“, sagt ein Mitarbeiter der Stiftung. Beiderseits des Flusses dehnt sich der Park aus.
Die Sorge um Park und Schloss sind groß in dem Städtchen. Seit der Wiedervereinigung waren insgesamt 25 Millionen Euro in die Wiederherstellung des ab 1815 von Hermann Fürst von Pückler-Muskau angelegten Landschaftsgartens investiert worden. Pückler hatte die Neiße hier wie einen Gebirgsfluss modellieren lassen. Jährlich kommen 200 000 Besucher hierher. Im 775 Jahre alten Kloster Marienthal stand das Wasser zwei Meter hoch. Es hat die Klostermauern durchweicht. „Die Arbeitsplätze von mehr als 100 Mitarbeitern sind durch die Katastrophe in Gefahr“, sagt ein Mitarbeiter. In Bad Muskau liegen überall Sandsäcke in den Straßen, die ein Hochdrücken von Gullydeckeln durch den Wasserdruck in der Kanalisation verhindern sollen.
Mit Podrosche und Sagar überflutete die Neiße auch zwei kleine Dörfer zwischen Görlitz und Bad Muskau. Die 80 Bewohner konnten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Zwei Deiche hatten dem Druck des Wassers nicht standhalten können. Dennoch hätte das Ausmaß der Hochwasserschäden in Sachsen noch viel schlimmer ausfallen können. Ein großer Teil des Wassers wurde in noch nicht vollständig gefüllte Tagebaugruben entlang der Neiße abgeleitet. In Brandenburg liegen die riesigen Gruben zu weit weg von Neiße und Spree. Die Rohrleitungen, die in normalen Zeiten Wasser aus der Spree und der Neiße in die neuen Seen befördern, sind außerdem viel zu leistungsschwach. Das würde nur eine geringe Entlastung bringen.
Die Hochwasserwelle bewegt sich unterdessen langsam nach Brandenburg hinein. Wie der Präsident des Landesumweltamtes, Professor Matthias Freude, mitteilte, werde sich der Scheitel der Neiße etwa 17 bis 18 Stunden auf hohem Niveau halten. Große Sorgen bereitet auch die anschwellende Spree oberhalb der Talsperre Spremberg. Dieses Becken wird derzeit gefüllt, sodass die Behörden zwei bis drei Tage Zeit gewinnen. Im Laufe des Abends oder der kommenden Nacht wird mit der Ausrufung der höchsten Alarmstufe in Spremberg gerechnet.
In der alten Neiße-Stadt Görlitz begutachten Behörden und Bewohner den Schaden des Vortages. Die meisten Bewohner haben wohl Glück im Unglück gehabt. „Wir sind frei zugänglich. Bitte kommen Sie.“ In den Hotels der Neiße-Stadt Görlitz müssen die Damen und Herren der Rezeption am Montag ganz besonderes Überzeugungsgeschick an den Tag legen. Sie hätten doch von der Hochwasserkatastrophe im Radio gehört und dramatische Bilder im Fernsehen verfolgt, fragen die Anrufer aufgeregt. Viele äußern gleich ihr Mitgefühl für den Verlust in der Altstadt. Doch so schlimm ist es nicht. Nur auf den Uferstraßen steht der Schlamm noch einen halben Meter. Das Wasser der Neiße hat sich zumindest in Görlitz wieder weitgehend in sein angestammtes Bett zurückgezogen. Der Glanz von Görlitz blieb nahezu unberührt.
An den Uferstraßen dagegen stehen Menschen mit Tränen in den Augen vor ihren Häusern. „Der Schlamm steht bis zu den Lichtschaltern“, klagt eine ältere Frau. „Das hat es bislang noch nicht gegeben.“ Andere Einwohner betrachten die Reste ihrer Autos. Die Kraft des Wassers hat die Wagen einfach von den Straßen an Hauswände gedrückt. Einige Autos liegen auf den Dächern. Versicherungsexperten machen Fotos. „Wir ersetzen die Schäden nur bei einem tatsächlichen Unfall, also wenn das Auto wirklich an einer Wand beschädigt worden war. Bei reinen Wasserschäden sieht es schlecht aus“, erklärt ein Makler den etwas verwirrt blickenden Besitzern. Aus vielen Häusern dringt das Geräusch von Pumpen, um die dreckige Brühe aus den Zimmern im Erdgeschoss oder aus den Kellern herauszupressen. Viele Görlitzer machen einen verzweifelten Eindruck. „Der Grundwasserspiegel ist noch viel zu hoch“, sagt Herbert Wanzke. „Das Wasser drückt immer wieder hoch.“ Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, ehe wieder von Normalität gesprochen werden kann. Dagegen läuft in den meisten Wohnungen seit den Mittagsstunden des Montags wieder einwandfreies Trinkwasser aus den Leitungen. Ein Wasserwerk musste nach einer Überflutung seinen Betrieb einstellen. „Nun haben wir Ersatz gefunden“, teilte eine Stadtsprecherin mit. Noch nicht absehbar sei dagegen die Höhe der Schäden. Von mehreren Millionen Euro müsse man wohl ausgehen. Bis gestern Abend konnten noch nicht alle Bewohner wieder in ihre Häuser zurückkehren. Seine Existenz hat beispielsweise der Wirt des Lokals „Vierradenmühle“ verloren. Das Hochwasser der Neiße drückte hier auf seinem Höhepunkt am Sonntag einfach durch die Fenster. „Wir haben alles verloren“, sagt der 39-jährige Gastwirt Frank Lachmann. Eine Versicherung gegen Hochwasser habe er für seine „östlichste Gaststätte Deutschlands“ bei keiner Gesellschaft bekommen.
Am Montag können es die Bewohner noch kaum fassen, dass die Neiße nach den starken Niederschlägen in Tschechien und Polen innerhalb von nur drei Stunden auf sieben Meter Höhe ansteigen konnte. Normal sind 1,50 Meter. „Solche Rekordniederschläge konnten wir mithilfe all unserer Modellrechnungen nicht vorhersagen“, erklärte eine Sprecherin des Deutschen Wetterdienstes. Im Zittauer Gebirge seien über 160 Liter innerhalb von nur 48 Stunden gefallen – so viel wie sonst in zwei Monaten.
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