Brandenburg: Ein bisschen Tradition
Seit 2010 betreut Landesrabbiner Shaul Nekrich jüdische Gemeinden in sechs Orten in Brandenburg. Wie die meisten Juden im Land stammt er aus der früheren Sowjetunion
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Zugfahrten in Brandenburg würden ihn nie langweilen, sagt Shaul Nekrich. Die Landschaft da draußen sei urwüchsig, harmonisch und inspirierend. Doch meist sind es nur wenige Augenblicke, in denen sich der freundliche junge Mann mit dem braunen Vollbart, der schmalen Brille und dem modischen Basecap aus Berlin-Spandau der Landschaftsidylle hingibt. Shaul Nekrich, 34 Jahre alt, ist Landesrabbiner in Brandenburg, zuständig für sechs lokale jüdische Gemeinden. Er nutzt die Fahrten zur Lektüre von Gemeindebriefen, liturgischen Texten und theologischen Aufsätzen, die meisten griffbereit auf dem kleinen schwarzen Notebook. Aller paar Minuten klingelt das Handy, dann folgen Gespräche in Russisch, Deutsch und manchmal Hebräisch.
Es ist Freitagnachmittag, und diesmal geht die Fahrt nach Frankfurt (Oder). In einer schmucken Villa nahe dem Kleistpark hat die 1998 gegründete Gemeinde ihr Quartier. Fast alle der rund 200 Mitglieder sind jüdische Immigranten, welche seit Anfang der 1990er-Jahre die zerfallende Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten verlassen haben. Antisemitismus, politische Unruhen, Wirtschaftskrise, Neugier auf Europa und das wiedervereinigte Deutschland haben sie hierher geführt. Oft kamen Familien im Verbund von drei Generationen, die mittlere und ältere ist in der Oderstadt geblieben.
Inzwischen dämmert der Abend herauf - Zeit für „Kabbalat Schabbat“, den Eingangsgottesdienst zum jüdischen Wochenende. Ein wenig ungeduldig warten feierlich gekleidete Frauen und Männer vor der Villa . Als der junge Rabbi eintrifft, hellen sich die Mienen auf. Die Atmosphäre ist herzlich. Shaul Nekrich scheint so etwas wie Teil der Familie zu sein, er spricht fließend Russisch und trifft den Ton der Leute.
Eine eigene Synagoge hat die Frankfurter Gemeinde nicht, doch die Mitglieder haben sich zu helfen gewusst. Im ersten Stockwerk betritt der Besucher einen weiträumigen, in Himmelbau gehaltenen Gottesdienstraum. Imposante Bilder von Jerusalem hängen neben kunstvoll gestalteten Gebetstexten. Im hinteren Teil des Saales fallen zwei filigrane Holzmodelle, geschaffen von einem Gemeindemitglied, auf: eines vom Ersten Jerusalemer Tempel, das andere von der einstigen Frankfurter Synagoge, 1823 im klassizistischen Stil erbaut, 1938 von den Nazis zerstört und in den 1950er-Jahren endgültig abgerissen.
In der Mitte des Gottesdienst-Raumes trennt eine dünne Holzwand die Stuhlreihen für Männer und Frauen. Die Frankfurter Gemeinde versteht sich als sehr traditionell. Rabbi Nekrich intoniert kräftig das Schabbat-Eingangslied „Lecha Dodi“, eher verhalten und fast etwas zögerlich stimmen die Gemeindemitglieder in den Gesang ein. Später wird Nekrich bei Wein, Brot, Salaten und Saft verschiedene Texte interpretieren.
Am Sonntag des darauffolgenden Wochenendes ist dagegen ausgelassene Feststimmung angesagt. Die Gemeinde feiert Purim, jenes historische Fest, das von der Errettung des jüdischen Volkes aus tödlicher Gefahr im antiken Persien erzählt. Kinder, Jugendliche und Erwachsene führen in farbenfrohen orientalischen Kostümen die Geschichte vom Perserkönig Ahasveros, dem Judenhasser Harman und der heldenhaften Königin Esther auf der improvisierten Bühne auf. Rabbiner Nekrich verteilt danach kleine Purim-Geschenke an die Kinder.
Lange kann der Rabbi nicht bleiben, denn in Cottbus wartet bereits die nächste Gemeinde, ebenfalls im Purim-Fieber. Mit dem Auto geht es in die 80 Kilometer entfernte Lausitz-Stadt. In den Gemeinderäumen im Stadtzentrum werden jiddische und hebräische Lieder zu Keyboard und Geige gesungen und getanzt. Hier nimmt der Rabbi spontan das Mikrofon und singt mit heller Stimme den jiddischen Klassiker „Oyfn Pripetchik“ („Im Ofen brennt ein Feuer“). Bunte Perücken und bizarre Gewänder künden von Festtagsstimmung. An Purim ist es ein guter Brauch, ordentlich Wein zu trinken.
Im gewöhnlichen Alltag kämpfen die jüdischen Gemeinden hart ums Überleben. In Frankfurt (Oder) wie auch in Cottbus kann Rabbi Nekrich zwar mit mehreren Hundert Mitgliedern arbeiten, an anderen Orten aber wie in Königs Wusterhausen und Oranienburg bleibt die Zahl zweistellig oder sinkt sogar. Seit der bundesweiten Neuregelung für die Aufnahme russischer Juden ist der Zuzug zum Erliegen gekommen. Warum sie in Brandenburg schon während der 1990er-Jahren vergleichsweise dezentral in vielen kleinen Orte angesiedelt wurden, anstelle sie komplett in Potsdam und Umgebung aufzunehmen – dies wird wohl das Geheimnis der damaligen Landespolitik bleiben. Zumal fast alle der Zuwanderer aus größeren und mittleren Städten stammen.
Auch Shaul Nekrich verbrachte seine Kindheitsjahre in einer sowjetischen Großstadt. 1979 wurde er in Leningrad, heute Sankt Petersburg, geboren. Noch als Teenager ging er nach Israel, wo er Informatik studierte und anschließend an einer renommierten Jerusalemer Talmud- Schule mit rabbinischen Studien begann. In Israel lernte Shaul auch seine Frau Debbie kennen, die eigentlich Debora heißt, eine selbstbewusste junge Ökonomin, deren Eltern ebenfalls die Sowjetunion verlassen hatten. Sie haben vier Töchter im Alter von einem bis neun Jahren.
Bevor Shaul Nekrich 2010 seine Ordination zum Rabbiner erhielt, absolvierte er Praktika in US-amerikanischen Gemeinden und ein abschließendes Studium am orthodoxen Rabbinerseminar zu Berlin. Sämtliche jüdische Gemeinden in Brandenburg tendieren zum orthodoxen Ritus, insofern liegt der junge Landesrabbiner im Trend. Gleichzeitig ist ihm wichtig, dass sich die Menschen in seinen Gemeinden unterschiedslos wohlfühlen, egal ob orthodoxe, liberale oder säkulare Juden. „Ein Rabbiner kann heutzutage nicht warten, bis die Menschen in die Synagoge kommen“, sagt Nekrich. „Er muss sie dort abholen, wo sie in ihrem Leben gerade stehen. Und sie brauchen keinen Lehrmeister, sondern wissen oft selbst sehr genau, was ihnen an der jüdischen Tradition wichtig ist.“
Dass Shaul Nekrich eher zu den jüngsten in der Gemeinschaft gehört, stört weder ihn noch die Mitglieder und Vorbeter. „Wir sind ausgesprochen froh, Rabbi Nekrich in diesen sechs Gemeinden zu haben“, sagt der Landesvorsitzende Gennadi Kuschnir aus Cottbus. „Egal ob an Festtagen, zu Gottesdiensten oder beim Religionsunterricht – er kommt nicht nur als ein kluger Kopf, sondern auch als ein Mann des Herzens herüber.“
Der Rabbi selbst ist Realist genug, um auch die Grenzen seiner Möglichkeiten zu sehen. Anders etwa als in der Jüdischen Gemeinde Potsdam gibt es in seinen sechs Gemeinden keine Jugendzentren. „Nach dem Abitur gehen die jungen Leute meist in große Universitätsstädte und beginnen dort ihr Studium als Informatiker, Mediziner, Manager, Künstler oder Anwalt. Wenn sie dann ihren Abschluss gemacht haben, kehren die allerwenigsten zurück“, sagt Nekrich. „Trotzdem arbeite ich sehr gern mit den Jugendlichen hier. Ich versuche, ihnen ein bisschen Tradition mit auf den Weg zu geben.“
Dem Rabbi ist es wichtig, dass die einzelnen Gemeinden nicht isoliert nebeneinander existieren, sondern miteinander verbunden bleiben und Herausforderungen gemeinsam meistern. Gegenwärtig ist er dabei, eine „Chewra Kadischa“, eine jüdische Beerdigungsgesellschaft, für Brandenburg aufzubauen. Als eine wichtige Aufgabe betrachtet Shaul Nekrich auch die Sicherung und Pflege der einstigen jüdischen Friedhöfe in Brandenburg, selbst wenn die meisten von ihnen nicht mehr für Bestattungen genutzt werden. Viele sind verwahrlost, verwittert und vergessen. „Ich freue mich hier auch über die Mithilfe von Nichtjuden“, sagt Nekrich. „Es ist eine gute Chance, sich vor Ort einfach mal kennenzulernen.“
Purim ist vorüber, die jüdischen Gemeinden bereiten sich auf die Pessach-Feiertage im April vor. Bis dahin gibt es viel vorzubereiten – und für Rabbi Nekrich viele Zugfahrten durch Brandenburg.
Olaf Glöckner
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