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Brandenburg: Ein Puzzle aus 529 Hinweisen

Im Entführungsfall in Storkow gaben sie wertvolle Hinweise zu Täter und Tatablauf: Die Profiler des Landeskriminalamtes in Brandenburg helfen, wenn Ermittler nicht weiterkommen. Ein Besuch in Eberswalde

Stand:

Er konnte nichts hören, weil die Stöpsel in seinen Ohren steckten. Er konnte nichts sehen, weil das Band auf seine Augen drückte. Er konnte nichts riechen, weil das Klebeband seine Nase abdichtete. Auch Hände und Füße festgezurrt mit Klebeband. Nur über dem Mund lag ein Loch. Er konnte atmen, immerhin. So lag er im Schilf, deponiert wie ein Postpaket, während die Kälte seinen Körper schwächte.

Irgendwann, nach Stunden, konnte er sich befreien. Und irgendwann stand er vor Polizisten, verstört, erschöpft, und erzählte seine Geschichte. Er war der Investmentbanker, der aus seinem Haus in Storkow verschleppt und entführt worden war. Er war der Mann, der sich ans Heck eines Kanus klammern musste, mit dem der Täter durch den Storkower See paddelte. Er erzählte, was er wusste. Erschreckende, dramatische Details.

Nur: Der Mann hatte Stunden in der Kälte gelegen, er hatte in dieser Zeit keine Sinnesreize gehabt. Wie mussten die Polizisten mit seinen Aussagen umgehen? Wann verliert man das Gefühl für Raum und Zeit?

Eine Frage für Spezialisten. Deshalb landete sie bei den Fallanalytikern des Landeskriminalamts Brandenburg, eine von vielen Fragen. „Im Fall Storkow waren wir von Anfang an eingeschaltet“, sagt Dieter Naumann, „das ist ungewöhnlich. Normalerweise kommen wir bei Altfällen ins Boot oder wenn Ermittlungen stocken“. Naumann ist ein untersetzter Mann mit gemütlichem Gesicht, er leitet die Brandenburger Fallanalytiker. Eine kleine Gruppe nur, gerade mal vier Personen. Zwei operative Fallananalytiker, ein Datenbank-Experte, eine Sachbearbeiterin. Jetzt sitzt Naumann in einem nüchternen Büro im LKA Eberswalde. In zwei Jahren geht er in Rente, er ist jetzt 63.

Zu Naumanns Team kommen Kriminalisten, die bei schweren Straftaten alles ermittelt haben, die nicht mehr weiterkommen. Es gibt ein Dezernat für Altfälle beim LKA Brandenburg, die Fallanalytiker sind ihm angegliedert. Und die studieren noch mal alle Akten, alle Zeugenaussagen, alle Spuren, alle sonstigen Hinweise. Nicht selten sind die Fälle zehn, zwanzig Jahre alt.

Die Kernfrage ihrer Arbeit lautet: Wie ist die Tat abgelaufen? Natürlich geht's auch ums Täterprofil, eine Filigranarbeit, bei der Psychologen mitpuzzeln. „Aber Hauptaufgabe ist die Tatrekonstruktion“, sagt Naumann. Die Ermittler vor Ort erhalten Hinweise von den Analytiken. Geht dieser Spur noch nach, oder: Überprüft jenes Detail, solche Dinge.

Im Fall Storkow war es anders. Naumanns Team hatte von Anfang an teilweise die gleichen Erkenntnisse wie die Ermittler vor Ort. Es hatte ja zuvor schon zwei gescheiterte Entführungsversuche auf eine Unternehmerfamilie in Bad Saarow gegeben. Möglicherweise war es der gleiche Täter wie im Fall Storkow. Die Polizei sagte, sie habe 529 Hinweise aus der Bevölkerung erhalten. Wie viele und welche von Naumann und seinen Kollegen kamen, sagte sie nicht. Dienstgeheimnis. Aber es waren wertvolle Hinweise, über Täter, über Tatablauf.

Monatelang arbeitete Naumanns Team an dem Fall. Der Kriminalpsychologe Jan-Gerrit Keil gehört auch dazu. Er kümmerte sich um die Frage, wie man die Aussagen des unterkühlten Opfers bewerten musste. Keil sitzt neben Naumann, zwei wortkarge Experten, wenn es um den Fall geht. Ein Tatverdächtiger ist in Haft, es ist ein laufendes Verfahren, sie dürfen nichts über ihre Erkenntnisse sagen.

Was ist das für ein Tätertyp? Weiß er, was es bedeutet, jemanden gefesselt in der Kälte liegen zu lassen? Oder ist er bloß grenzenlos naiv? Das waren Fragen, die sich der Psychologe Keil im Fall Storkow stellte. Der Kriminalist Naumann war noch mal an den Tatorten, im Garten der Villa in Bad Saarow etwa. Zur Tatzeit war es dunkel, was konnte man bei diesen Lichtverhältnissen gesehen haben? Solche Fragen beschäftigen Naumann.

Profiler nennen sie im Fernsehen Leute wie Naumann. Profiler? Naumann verzieht das Gesicht, er mag diesen Ausdruck nicht. Profiler, das sind in Filmen Leute, die bedeutungsschwanger erzählen, dass der Täter 42 Jahre alt ist, Glatze trägt und früher Kaninchen gequält hat. „Im Fernsehen sagen solche Leute auf die Minute genau, was passiert und wer der Täter ist“, sagt Naumann. So läuft das in der Praxis aber nicht.

Teamarbeit, das ist die Praxis. Zu Naumanns Kerntruppe stoßen immer wieder Experten. Leute wie Keil, der Psychologe. Oder ein Sprengstoffexperte. Oder ein Rechtsmediziner.

Sie haben Zeit, viel Zeit, das ist ihr größter Luxus. Sie hocken wochen- und monatelang über den Informationen, die sie von den Ermittlern vor Ort erhalten haben. Einmal hospitierte ein Kriminalbeamter aus einer Polizeiwache bei ihnen. Am Ende fragten sie ihn, was er seinen Kollegen erzählen werde. „Wenn ich sage, dass ich vier Stunden über einem Brief gesessen habe, halten die mich für bescheuert“, antwortete er. „Wir haben für vier Briefe zwei Stunden Zeit.“

Keil vertiefte sich in einem Fall wochenlang in Briefe und Postkarten. Es ging um Andrea Steffen, vergewaltigt und getötet Anfang der 90er-Jahre. Der Fall war 20 Jahre lang ungelöst, dann wurde er noch mal genau untersucht. In der Nähe des Tatorts war ein Taschentuch gefunden worden, möglicherweise mit der DNA des Täters. Die DNA-Analyse hat sich enorm entwickelt, deshalb wurde von Ermittlern öffentlich zum Massenspeicheltest aufgerufen. Tage später warf sich ein älterer Mann aus dem Bereich Barnim vor einen Zug. In der Mittelkonsole seines Autos lag ein Brief, adressiert an die Polizei. Ein Geständnis, der Mann gab zu, Andrea Steffen vergewaltigt und getötet zu haben. Er beschrieb den Tatablauf.

Doch einiges stimmte nicht exakt mit den Erkenntnissen der Ermittler vom Tatablauf überein. Also zog man Keil hinzu. War das Geständnis glaubhaft? Oder litt der Mann unter Schuldwahn und zählte Dinge auf, die er aus dem Fernsehen hatte? Hatte er sich durch Zufall Täterwissen zusammengereimt? Der Täter war tot, die Aussagen der Familie nahmen die Ermittler mit Vorsicht auf, also studierte Keil Briefe und amtliche Post des Toten. Wie reagierte dieser Mensch auf Konflikte? Wie löste er sie, wie logisch argumentierte er? Am Ende urteilte Keil: „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war er der Täter und kann sich den Hergang nicht ausgedacht haben.“

Die Analytiker nähern sich einem Fall mit einer Flut von Fragen. Wann ist das Opfer aus dem Haus? Warum nahm es diesen Weg? Weicht der vom normalen Weg zur Schule, zur Arbeit ab, weil das Opfer zum Beispiel zum Zahnarzt musste? Das spräche für eine nicht lange geplante Tat. Oder bei Mord: Liegt die Leiche sorgsam versteckt? Oder kann man sie sofort finden? Spricht dies dafür, dass der Täter denkt, niemand könne eine Verbindung von ihm zum Opfer herstellen?

Banale Fragen auf den ersten Blick. Aber es sind Fragen, die zu einer zeitraubende Puzzlearbeit führen. „In der Regel hat die Polizei vor Ort diese Fragen schon geklärt, trotzdem gibt es meist noch Defizite, etwa beim Opferbild. Wie hat das Opfer gelebt. Wie war sein soziales Umfeld?“, sagt Naumann. Neue Denkansätze für die Ermittler vor Ort, im besten Fall führen sie zur Aufklärung der Tat.

Wichtige Hinweise kamen zum Beispiel im Fall der Bombe im Lehnitzsee in der Nähe von Oranienburg. Taucher suchten 2005 nach Weltkriegsmunition. Einer stieß auf einen Bombenkörper mit Sprengstoff und Nägeln. Dass der Taucher die Bombe selber gelegt hatte, um sich mit dem Fund zu brüsten und sie spektakulär im Wasser zu zünden, wusste im ersten Moment noch niemand. Da der Cheftaucher beschloss, die Bombe an Land zu zünden, stellten Experten schnell fest, dass es gar keine Weltkriegsmunition war. Wer deponierte die Bombe? Und warum? Sollte jemand in die Luft gesprengt werden? Naumanns Team und die Sprengstoffexperten untersuchten den Vorgang bis ins letzte Detail. Diverse Teile waren mit schwarzer Schicht verkleistert, die Bombe konnte nicht von selbst explodieren. In mühsamer Kleinarbeit wurde der Taucher durch die zuständigen Ermittler des LKA überführt. Naumann holt einen gelben Schnellhefter vor. Auf 47 Seiten ist das Ergebnis der Fallanalytiker protokolliert, bis zur letzten Schraube ist alles aufgeführt.

Auch im Fall Schmökel waren die Experten im Einsatz. Frank Schmökel ist der Mann, der 2000 auf seiner Flucht aus der psychiatrischen Landesklinik Eberswalde einen Pfleger und später einen Rentner in seinem Wochenend-Bungalow tötete. Die Polizei ist in höchster Alarmbereitschaft. Plötzlich läuft bei der Einsatzzentrale der Anruf eines Polizisten aus Dresden ein. Jemand habe behauptet, Schmökel sitze in einer Kneipe und habe ihm erzählt, er wolle sich unter bestimmten Bedingungen stellen. Was sollen wir tun? Das könnt ihr vergessen, lautete die Antwort. „Dresden lag nicht auf seiner Fluchtroute“, sagt Naumann, „außerdem passte es nicht in unser Täterprofil, dass er sich stellen würde.“ Dann ein weiterer Anruf aus Frankfurt (Oder). „Müssen wir die Bevölkerung warnen? Besteht die Gefahr, dass Schmökel wieder andere Mädchen missbraucht?" Er hatte schon mal zwei minderjährige Mädchen vergewaltigt. Nein, antwortete der Psychologe des Teams. „Nein, Schmökel habe derzeit nur das Interesse, die Flucht durchzuhalten.“ So war es auch. Die Fallanalytiker empfahlen auch, bei der Jagd möglichst viele und lautstark Hunde einzusetzen. Schmökel hatte eine Heidenangst vor Hunden, das wussten sie. Der Mörder wurde schließlich in einer Gartenlaube bei Bautzen entdeckt, weil der Fahndungsdruck deutschlandweit so hoch war.

Im Moment arbeiten Naumann und seine Kollegen an einem ganz alten Fall. Im Bugsinnsee in Brandenburg wurde am 10. Juli 2004 eine Frauenleiche gefunden, die Tote lag in einem Seesack. Wie kam sie dahin? Dieser Frage gehen Naumann und sein Team nach. Aber sie wissen nicht mal, wer die Frau ist. Experten hatten ein Foto der Toten rekonstruiert und an die Medien verteilt. Niemand erkannte sie. „Trotzdem“, sagt Naumann seufzend, „wir versuchen, aus dem wenigen Material etwas herauszufinden.“

Ernüchternde Ergebnisse gehören zum Job. Mindestens drei Analytiker müssen einen Fall besprechen, einer fungiert dabei als Moderator. Er hat den Part, immer wieder zu hinterfragen: Gibt es Lücken in der Argumentation? Ist irgendetwas nicht stimmig? „Manchmal“, sagt Keil, „diskutieren wir acht Stunden über eine Version.“ Klingt beeindruckend. „Ja“, sagt Keil, „aber am nächsten Morgen verwerfen wir sie dann wieder.“

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