Brandenburg: Ein Weg der Wiedergutmachung
Opfer einer Straftat fühlen sich ausgeliefert und hilflos. Ein Täter-Opfer-Ausgleich gibt mehr Genugtuung als ein Urteil vor Gericht
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Potsdam - Ein junges Paar wird in der U-Bahn von einem Betrunkenen angepöbelt. Es gibt Streit. Der junge Mann stellt sich schützend vor seine Freundin - und trägt ein angebrochenes Nasenbein davon. An dem Vorfall haben beide schwer zu tragen. Sie trauen sich nicht mehr in die U-Bahn, wollen wegziehen. „Die beiden hatten ein Monster im Kopf“, schildert Matthias Beutke vom Diakonischen Werk Potsdam. Und dann sitzt dem Paar ein junger Mann gegenüber, der sich zutiefst schämt. Im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) lernen sich die drei kennen – und finden schließlich einen Weg der Wiedergutmachung.
„Ich bezweifle, dass eine Gerichtsverhandlung so viel bewirkt hätte“, meint Beutke. Als einer von vier freien Trägern bringt seine Organisation in Brandenburg jugendliche Straftäter und Opfer an einen Tisch – freiwillig und ohne Richter. In 126 Fällen ist das 2013 geschehen. In einem Großteil der Fälle ging es um Körperverletzungen und Sachbeschädigungen.
Generell ist die außergerichtliche Schlichtung, die für Jugendliche und Erwachsene genutzt wird, bei fast jeder Straftat denkbar. „Selbst wenn ein Vergewaltigungsopfer das Bedürfnis hat, den Täter zu sprechen, sollten wir darauf eingehen“, sagt Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg. „Der Täter-Opfer-Ausgleich ist wichtig, weil er vor allem dem Opferinteresse dient.“ Die Möglichkeiten des Ausgleichs sind vielfältig und reichen von einer finanziellen Entschädigung bis hin zur Reparatur eines Gegenstandes oder der Beseitigung eines Graffito.
Obwohl der TOA als ein wichtiges Instrument moderner Kriminalpolitik gilt und Erfolge erzielt, mangelt es ihm auch nach fast 30 Jahren noch immer an Akzeptanz in Deutschland. „Die Praxis hat den TOA nur begrenzt angenommen“, bedauert Gerd Delattre (61) vom TOA-Servicebüro Köln, einer überregionalen Zentralstelle. Gründe für die Zurückhaltung gibt es aus Sicht von Experten mehrere: überlastete Staatsanwälte, eine straforientierte Juristenausbildung, mangelnde Informationen – und ein falsches Bild vom TOA.
„Er ist dem Vorwurf ausgesetzt, dass er dem Täter eine gute Möglichkeit bietet, auf Kosten der Opfer mit einer glimpflichen Strafe davonzukommen“, erklärt Gemeindepädagoge Beutke. „Tatsächlich ist er jedoch für viele Opfer eine vernünftige Alternative“, betont Delattre mit Blick auf den Tag der Kriminalitätsopfer. Und Beutke ergänzt: „Mit dem TOA kann ein Opfer das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen.“ Zu diesem Ergebnis kommt auch eine mit EU-Mitteln geförderte Studie zur Mediation in Strafverfahren. Bei dem Forschungsprojekt wurden Opfer interviewt, die sich auf eine außergerichtliche Schlichtung und die Begegnung mit dem Täter eingelassen haben. Sie schildern beispielsweise, wie diffuse Ängste abgebaut werden konnten durch die Begegnung mit dem Täter. Oder dass eine persönliche Entschuldigung des Täters als Genugtuung und Anerkennung des erfahrenen Leids empfunden wird.
Trotzdem erlebt der TOA keinen Aufschwung. Bundesweit sind die Zahlen eher rückläufig. „Vor allem in Brandenburg ist dies enorm“, berichtet Sozialpädagoge Delattre. So gab es nach Angaben des brandenburgischen Oberlandesgerichts (OLG) 2013 in 1154 Fällen mit erwachsenen Straftätern eine außergerichtliche Einigung. Zehn Jahre zuvor wurden mit dem TOA 2613 Strafverfahren beendet. Bei den freien Trägern, die sich um jugendliche Straftäter kümmern, sank die Anzahl im gleichen Zeitraum von 849 auf 526 Fälle, berichtet Beutke.
Das Diakonische Werk in Potsdam beklagt, die Staatsanwaltschaft schlage immer seltener Fälle für den TOA vor. 2008 sei die Initiative noch in 82 Prozent der Fälle im Potsdamer Raum von der Behörde ausgegangen, inzwischen sei dies nur noch bei 30 Prozent der Fall.
Anlass für Generalstaatsanwalt Rautenberg, zu prüfen, warum dies so ist: „Wir hatten lange Zeit eine der ersten Plätze bundesweit.“ OLG-Sprecherin Sophie Kyrieleis verweist auf den allgemeinen Rückgang der Kriminalität angesichts des demografischen Wandels. Ein Argument, dem Delattre nur bedingt folgt.
„Ich halte die Justiz inzwischen für ungeeignet, die Fälle auszuwählen“, bemerkt der Sozialpädagoge, der das TOA-Servicebüro seit 1997 leitet. „Wenn Opfer und Täter mehr über diese Möglichkeit wüssten, würden viele von ihnen diesen Weg wählen.“
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