Brandenburg: Eine Stadt unter Verdacht
Neuruppin kommt nicht zur Ruhe: Seit Ermittler die XY-Bande aushoben, verdächtigt jeder jeden. Keiner weiß, aber jeder ahnt etwas. Die alles beherrschende Frage: Wer ist der nächste?
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Neuruppin kommt nicht zur Ruhe: Seit Ermittler die XY-Bande aushoben, verdächtigt jeder jeden. Keiner weiß, aber jeder ahnt etwas. Die alles beherrschende Frage: Wer ist der nächste? Neuruppin - Neuruppin ist eine Provinzstadt wie jede andere auch. Es wird getratscht, es wird gemunkelt. Von irgendwo kommt ein Gerücht. Jeder hat ein paar Indizien beizusteuern, ahnt etwas, will etwas gehört haben. Nur: kümmern tut sich keiner drum. Wer was weiß, hält den Mund. Wer nichts weiß, ahnt noch mehr. So war es vor dem 19. August diesen Jahres. So ist es immer noch. Nur viel schlimmer. Seit die XY-Bande aufgeflogen ist steht eine ganze Stadt unter Verdacht, verdächtigen sich die Einwohner gegenseitig, wahlweise an den mafiösen Machenschaften der Bande beteiligt oder deren Kunde oder deren Mitwisser gewesen zu sein. Oder aber mindestens einen zu kennen, der einen kennt. Dem gesellschaftlichen Leben Neuruppins wurde mit dem 19. August das Parkett entzogen. Zum Vorschein kam ein Sumpf. Das Landeskriminalamt Brandenburg und die Staatsanwaltschaft Neuruppin ermitteln gegen mehr als 100 Verdächtige – zumeist aus Neuruppin aber auch aus Rathenow, Eberswalde, Berlin, Oderberg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Sieben Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft, ein Polizist und ein Stadt–Angestellter sind unter Auflagen wieder frei. Der Chef des Liegenschaftsamtes soll mit dem Bandenchef, dem 36-jährigen Olaf Kamrath Geschäfte gemacht, der Polizist Interna verraten haben. Kamrath und seine Bande, die sich selbst nach Mafiaart „Familie“ nannte und streng hierarchisch organisiert war, soll seit Anfang/Mitte der 90-er Jahre unter anderem harte und weiche Drogen geschmuggelt, Prostituierte eingeschleust, ein illegales Spielsystem für Glücksspielautomaten ersonnen und Schwarzgeld verschoben haben. Die Profite investierte vor allem Kamrath, in Immobilien in bester Lage. Er war vom Würstchenverkäufer zum angesehenen Stadtverordneten der CDU aufgestiegen. Welches Binnenklima herrschte hinter der Fassade der aufstrebenden Touristen- und Fontane-Stadt, dass hier ein solch kriminelles Biotop entstehen konnte? „Das fragen wir uns auch“, sagt der zuständige Neuruppiner Staatsanwalt. Nur sagen will er dazu nichts, verweist auf das Landeskriminalamt (LKA) in Eberswalde. Das darf sich nicht mehr äußern. Maulkorb vom Staatsanwalt. Dabei ist es ganz einfach, funktioniert überall – im tiefsten Sizilien genau wie im nördlichen Brandenburg: Einer kennt den anderen. Eine Hand wäscht die andere. Bist du mir treu, belohn ich dich. Kamrath scharte meist Gleichaltrige um sich, die er zum Teil schon aus der Schule kannte. Flogen etwa Drogenkuriere auf und hielten dicht, dann sorgten er und seine Kompagnons für die Familien und die Versorgung im Knast. Als vor vier Jahren ein Lieferant mit Drogen im Wert von mehr als 100 000 Mark verurteilt wurde, saß Kamrath unter den Zuschauern im Gericht. Für die Ermittler besteht kein Zweifel: er war der Pate von Neuruppin. Und viele haben ihm geholfen und noch mehr dicht gehalten. „Wer weiß denn, wer da noch mit drinsteckt? Es müssen doch noch mehr gewesen sein“, sagt die Verkäuferin aus der Bäckerei. „Es kann doch nicht nur der eine Polizist die Razzien verraten haben“, sagt die Frau im Cafe. Und: „Wenn Verkehrskontrollen waren, dann sind doch die mit den dicken Autos und den XY-Kennzeichen immer durchgewunken worden.“ Gesehen hat sie es nicht, aber „gehört hat man das doch oft“. Der Mann, der nur schnell die Zeitung holt ist sich sicher: „Da stecken noch ganz andere mit drin.“ Punkt. Aus. Keine Widerrede. Durch wiederholte Gerüchte bewiesen. Neben Kamrath und seinen aufgeflogenen Gesellen steht besonders eine angesehene Familie der Stadt im Mittelpunkt der Spekulationen: Die Theels. Ein Verfahren gegen den Neuruppiner Bürgermeister Otto Theel wurde gegen Zahlung eines Ordnungsgeldes eingestellt. Theel senior ist seit Donnerstag nicht mehr Bürgermeister, er zieht für die PDS in den Landtag ein. Vorher hat er sich noch mit der Staatsanwaltschaft angelegt: Die wollte, dass die Stadt den Kamrath-Firmen die Spielhallen-Lizenz entzieht. Theel weigerte sich. Seine Söhne A. und C. saßen für die CDU im Stadtparlament neben Kamrath. C. bewirtschaftet für die Stadt die Fontane-Kirche, das zentralen Bauwerk und Veranstaltungshaus der Stadt. Besser noch steht Sohn A. Theel da. Der einstige Abteilungsleiter für die Neuruppiner Fahrgastschifffahrt machte sich selbständig: Seine Firma besorgt auf den Schiffen der Stadt das Catering. Als Buffet-Lieferant soll er auch auf einer der Partys der XY-Bande gewesen sein. Rein geschäftlich als Gastronom wie er betont. Ermittelt wird trotzdem gegen ihn – wegen des Verdachts zumindest vom Bestechungsversuch an einem Stadtverordneten gewusst zu haben oder gar daran beteiligt gewesen zu sein. Auch unter den Drogen-Kunden der XY-Bande taucht er auf. Die CDU-Fraktion der Theel-Brüder hat den Kamrath-Skandal nicht heil überstanden: Die Brüder sind mit dem Ex-Fraktionschef ausgetreten, sitzen jetzt „unabhängig“ im Stadtparlament. Die ganze Stadt droht durch den Mix aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Denunziation zu zerreißen, meint die Lokaljournalistin der örtlichen Zeitung. Sie weiß nicht mehr, wie lange die Stadt das noch aushält – wie man noch zusammen leben soll. Inzwischen denken viele Neuruppiner, wie Bewohner eines sizilianischen Bergdorfs: Längst sind die Autos der Bande mit den XY-Nummernschildern wieder bei den Leasingfirmen. Doch eine arglose Lehrerin fährt unter den argwöhnischen Blicken der Leute Spießruten. Sie hatte vom Amt für ihren Neuwagen ein XY-Kennzeichen erhalten. Und irgendwie könnte ja alles mit der XY-Bande zusammenhängen. So wie bei dem Mann, der 14 Tage verschwunden war und dann tot im Ruppiner See schwamm: Das erste Opfer einer Rache oder Vertuschungsaktion!? Der harmlose Mann war wohl einfach nur ertrunken. Bei allen Gerüchten und heimlichen Denunziationen: In Märkisch-Palermo leben sie nicht. Da sind sich die meisten Neuruppiner einig. Doch sie klingen, als sei ihnen mit Kamrath der Pate abhanden gekommen. Als gehe mit ihm auch die letzte Hoffnung in der unter Arbeitslosigkeit und Abwanderung leidenden Stadt unter. Ja: Natürlich hat Kamrath seine Häuser mit Drogen- und Schwarzgeldern finanziert. Ja: Natürlich ist er ein Krimineller. Aber, sagen viele: Er hat doch wenigstens was gemacht in der Stadt. Hat die Häuser hübsch renoviert, hat gespendet und wollte am Seeufer eine Marina bauen – mit Arbeitsplätzen und für mehr als 10 Millionen Euro. Mit seinem gewaschenen Drogengeld war Kamrath ein Wirtschaftsfaktor. „Ich hoffe, dass die Ermittlungen eine richtig nachhaltige Wirkung in der Stadt haben“, sagt Christain Gilde, Landrat von Ostprignitz Ruppin. Noch sieht es anders aus: Kamraths Bar „Blue Banana“ in der Schäfer Straße, die nach der Razzia geschlossen war, hat seit Freitag wieder auf. Eine Frau hat das Etablissement gepachtet. Nicht von Kamrath selbst – von dessen Frau. So heißt es. Sie selbst sagt nichts.
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