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Von Annette Kögel und Christoph Spangenberg: Elfjähriger Dealer gefasst – jetzt soll er ins Heim
Der Junge wird voraussichtlich in eine Brandenburger Einrichtung gebracht – eine Flucht von dort ist schwierig
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Berlin/Potsdam - Tagelang haben sie nach ihm gesucht. Am Dienstag ist es der Polizei gelungen, den jungen Drogendealer, der von sich selbst sagt, er sei elf Jahre alt, zu fassen. Wo genau das war, und wie das den Beamten glückte, wollte die Polizeipressestelle aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen. Aber eines ist klar: So schnell soll der Palästinenser, der als minderjähriger unbegleiteter Asylbewerber eingeschleust wurde und schon ein Dutzend Mal beim Dealen mit Heroin gefasst wurde, nicht wieder entkommen. Das Steglitzer Jugendamt will ihn in ein Heim nach Brandenburg bringen, dafür muss allerdings erst ein Vormund beestellt werden. Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk Lazarus (EJF) will das Kind gern aufnehmen, sagt EJF-Jugendhilfeexpertin Sigrid Jordan-Nimsch – obgleich der Fall des Jungen schon extrem sei. Zudem wollen Kriminalmediziner das wahre Alter des Jungen ermitteln.
Die Heime sind oft die letzte Chance für kriminelle Kinder. Sie heißen Pjotr, Max oder Orhan. Sie haben mit Heroin gedealt. Sie haben den Zeitungskiosk nebenan überfallen, spielen am liebsten Gewaltvideos, werden beim Kuscheln ganz still und machen nachts ins Bett. Andere sind hyperaktiv, weinen, wenn jemand das Kuscheltier versteckt, drückt auf ihrer Hand, aggressiv gegen sich selbst, glühende Zigaretten aus und treten dem besten Freund in den Magen. Sie machten Geld Haschisch-Verkäufen – und sind jetzt stolz darauf, dass das von ihnen betreute Huhn die meisten Eier im Stall legt.
Sie alle haben unterschiedliche Schicksale, unterschiedlich engagierte Elternhäuser, sind unterschiedlicher Herkunft. Und haben doch eines gemeinsam: Die Jugendhilfe kennt sie als „delinquente Kinder“, und sie werden in Heimen mit kleinen Wohngruppen betreut, in denen es Rituale, strenge Regeln und viele sozialpädagogische Fachkräfte gibt. 60 Prozent davon sind Jungen, die durch ihr kriminelles Handeln, durch Verhaltensstörungen, durch psychische Krankheiten aufgefallen sind. Der Staat nimmt sie eine Zeitlang aus ihren Familien heraus. Auch, weil die Mutter das Kind vor lauter Hilflosigkeit schlägt, weil der Vater es missbraucht hat.
In Berlin und Brandenburg hat sich das Evangelische Jugend– und Fürsorgewerk (EJF) als Spezialist im Umgang mit delinquenten Kindern und kriminellen Jugendlichen einen Namen gemacht. EJF will auch beide angeblich elf- und dreizehn Jahre alte Drogenhändler, die zuletzt mehrfach auffielen, gern aufnehmen – obwohl die beiden schon extreme Fälle seien. „Die Kinder wollen nicht“, sagt EJF-Jugendhilfe-Referentin Sigrid Jordan-Nimsch. Die Familien als Erziehungsberechtigte sind nicht bekannt. Mehrfach wurden sie wegen Heroinhandels festgenommen und beim Kindernotdienst abgegeben, doch dort blieben sie nie lange. Die Vermisstenstelle des Landeskriminalamts sucht jetzt den 13-Jährigen weiter intensiv. Die Polizeipressestelle will aus taktischen Gründen nichts Genaues sagen, es würden lediglich einschlägige Treffpunkte überprüft, hieß es . Von Angehörigen und Kontaktpersonen der jungen Dealer in deren Kiezen erhoffen die Beamten sich Hinweise auf den Aufenthaltsort.
Das Fürsorgewerk EJF bietet für delinquente Kinder und kriminelle Jugendliche wie den jungen Heroindealer insgesamt 87 Plätze in Berlin und Brandenburg. Für Kinder unter der Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren gibt es vier Einrichtungen der Jugendhilfe. 220 Euro kostet so ein Platz das zuständige Jugendamt im Schnitt jeden Tag. Der Betreuungsschlüssel liegt angesichts einer intensiven Rund-um-die-Uhr-Betreuung bei einer Fachkraft für drei Kinder. Zu einem Team gehören Mitarbeiter diverser Fachrichtungen: Heilpädagogen, Sozialarbeiter, Erzieher, aber auch Handwerker und Lehrer.
Vier Einrichtungen bietet EJF für Mädchen und Jungen, die vor einer noch schlimmeren kriminellen Karriere geschützt werden sollen. Die meisten liegen in der Uckermark, wie die beiden Wohngruppen mit sechs und acht Plätzen in Petershagen, im benachbarten Luckow sind es neun Plätze. In Julienwalde gibt es 18 Plätze, in Groß-Pinnow acht. Alle Einrichtungen sind mit Kindern aus ganz Deutschland ständig belegt, sagt EJF-Sprecher Heiko Krebs. 60 Prozent der Kinder haben Eltern mit Migrationshintergrund: Polen, Russen, Araber, Bosnier, Türken und viele weitere Länder. Ihr Durchschnittsalter liegt bei etwa 13 Jahren. Auch eine Einrichtung für Mädchen, zumeist über 14 Jahre, gibt es, in Groß-Pinnow.
Jeder Lebensweg, jedes Elternhaus sei individuell, sagt die Jugendhilfereferentin – und somit auch die Art und Weise, auf das Kind einzuwirken. Geschlossene Heime gibt es in Berlin und Brandenburg wegen des politischen und gesellschaftlichen Willens nicht. Doch alle Einrichtungen werden nach strikten Regeln und Ritualen geführt: Grenzen setzen, wo früher keine waren. Vieles klingt selbstverständlich: Gemeinsam aufstehen, frühstücken, in die Schule gehen, nachmittags zusammen spielen, Sport treiben. So etwas kannten die Kinder vorher nicht. Oder Schularbeiten. Jetzt sitzen sie zu zweit vor dem Lehrer, der plötzlich auch lobt. „Wir vermitteln andere Werte, das ist entscheidend“, sagt EJF-Referentin Jordan- Nimsch. Über Bestätigung beim Sport, bei der Tierpflege. Die Eltern werden mit eingebunden: „Wir sagen: Kommen Sie her, schlafen Sie bei uns im Bungalow, schauen sie, was ihr Sohn jetzt alles kann!“
Anderthalb Jahre oder länger leben Pjotr, Max oder Orhan meist so zusammen. Abgeschlossene Zimmer, Alarmanlagen, hohe Zäune gibt es nicht. Aber das Gelände dürfen sie nur mit einem Betreuer verlassen. „Alle erreichen wir nicht, trotz aller Bemühungen“, sagt Jordan-Nimsch. Viele leben danach in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft – und nicht mehr im Kinderzimmer.
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