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Brandenburg: Entscheidungen über Leben und Tod

Im Zweifel dürfen Ärzte junge Patienten auch gegen den Elternwillen behandeln

Von Sandra Dassler

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Berlin - Ärzte können Kinder gegen den Willen ihrer Eltern behandeln oder therapieren, wenn ansonsten ein gravierender Schaden oder gar der Tod droht. Das sagte der Sprecher der für die Charité zuständigen Senatsverwaltung für Wissenschaft, Thorsten Metter: „Grundsätzlich hat ein Krankenhaus die Möglichkeit, das Familiengericht selbst direkt anzurufen und einen Antrag auf Ersatz der Zustimmung der Eltern für die notwendige medizinische Behandlung eines Kindes zu stellen.“ Allerdings seien solche Fälle äußerst selten, sagte der Sprecher der Berliner Zivilgerichte, Ulrich Wimmer. Dass der Fall der an Knochenkrebs erkrankten Adina A. (Name geändert) aus Berlin-Kreuzberg am kommenden Freitag am Familiengericht behandelt wird, wollte er nicht bestätigen. Wie berichtet sind die Ärzte im Virchow-Klinikum der Charité der Ansicht, dass der Sechsjährigen ein Unterschenkel amputiert werden muss, damit der Krebs nicht Metastasen streut. Die Eltern des Kindes verweigern bisher die Zustimmung, deshalb schalteten Ärzte und Jugendamt auch das Familiengericht ein.

Der Vater des Kindes, ein Kreuzberger mit türkischem Pass, wandte sich an den türkischen Generalkonsul und Berlins Gesundheitsstaatssekretärin Emine Demirbüken-Wegner (CDU). Bei einem Treffen in der Charité wurde vereinbart, dass der Vater drei Ärzte benennt, die für ein weiteres Gutachten infrage kommen. Wie eine mit der Familie befreundete Dolmetscherin sagte, stehe noch nicht fest, welches Krankenhaus das Gutachten oder die Behandlung übernehmen soll. Sollte es keine Entscheidung geben, müsse am Freitag ein Familiengericht entscheiden.

Dass ein Richter die Zustimmung beider Eltern ersetzt oder einen Vormund bestellt, der dann die Entscheidung für die Behandlung trifft, sei eher ungewöhnlich, sagt Gerichtssprecher Wimmer. Kollegen könnten sich an etwa ein Dutzend Fälle in den letzten Jahren erinnern. Häufiger seien Auseinandersetzungen zwischen Eltern, wenn die Mutter das Kind impfen lassen will, der Vater aber nicht.

Loretta Ihme, die Kinderschutzkoordinatorin der Charité, kennt viele Fälle, in denen Ärzte ihre jüngsten Patienten in Gefahr sehen. Meist, sagt sie, gehe es aber um drogenabhängige oder schwer psychisch kranke Mütter und Väter, die nicht in der Lage seien, ihre Kinder angemessen zu versorgen. Oder um Eltern, die mit der Behandlung schwerst körperlich behinderter Kinder überfordert seien. „Und wir versuchen das natürlich immer zuerst in Kooperation mit den Eltern – selbst in Fällen, bei denen wir aufgrund von Verletzungen annehmen müssen, dass Kinder geschlagen wurden.“ Mit „wir“ meint Loretta Ihme die aus mehr als einem Dutzend Sozialarbeitern und Ärzten bestehende Kinderschutzgruppe der Charité, die sie leitet. „Die meisten Mütter und Väter wollen ja, dass es ihrem Kind gut geht“, sagt sie: „Aber einige schaffen es nicht.“

Allein im Jahr 2011 hat die Kinderschutzgruppe 570 Fälle von Kindeswohlgefährdung registriert und zu lösen versucht. Meistens wurde das Jugendamt informiert, in 180 Fällen musste sofort eingeschritten werden. Die gesetzliche Grundlage ist die Offenbarungsbefugnis der Ärzte, wenn sie das Kindeswohl in akuter Gefahr sehen. Sie dürfen selbst das Familiengericht anrufen. Das könne nötig sein, wenn das Jugendamt die Gefahr für das Kind nicht so hoch wie die Ärzte einschätze, sagt Ihme. Übrigens ist die Charité die einzige Einrichtung in Deutschland, die sich die Stelle einer Kinderschutzkoordinatorin leistet.

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