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Brandenburg: Es könnte kippen
Jahresbilanz der Opferperspektive: Mehr Gewalt gegen Ausländer und Erinnerungen an die 90er-Jahre
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Potsdam - „Die Stimmung hat sich verändert“, sagt Martin Vesely. Für den Verein Opferperspektive berät er in Brandenburg Menschen, die Opfer rechter Gewalt geworden sind, die bedroht oder auch im Alltag andauernder fremdenfeindlicher Hetze ausgesetzt sind. „Es gibt jetzt offenen Rassismus“, sagte Vesely. Seine Kollegin Katrin Meinke erklärt noch drastischer, was sich verändert hat: „Das Gewaltpotenzial war schon immer da, jetzt kommen die Flüchtlinge, selbst im letzten Ort gibt es ein Heim. Nun haben die Rassisten einen, den sie schlagen können.“ Nicht nur organisierte Neonazis, sondern „normale rassistische Bürger“, wie Meinke es nennt, würden nicht mehr nur hetzen, sondern zuschlagen, im Gefühl, „dass ein Großteil der Bevölkerung zumindest heimlich jubelt“.
In seiner Jahresstatistik für das 2015 verzeichnet der Verein Opferperspektive einen rasanten Anstieg rechter Gewalttaten. Mehr als jeden zweiten Tag wurden rein rechnerisch Menschen rassistisch, wegen ihrer politischen Ansichten oder zunehmend auch wegen ihres Engagements für Flüchtlinge angegriffen, verletzt oder bedroht, selbst Journalisten und Politiker wie jüngst den Bürgermeister von Bernau trifft es immer häufiger. Insgesamt waren es 203 Fälle nach 92 im Jahr zuvor. Im Ergebnis stellt die Opferperspektive fest, dass die Hemmschwelle für Gewalttaten deutlich gesunken ist. Katrin Meinke sagt, die Resonanz für rassistische Meinungen sei gewachsen. Wenn vermehrt gegen Flüchtlinge demonstriert wird, die Politik von Katastrophe und Krise spreche, dann sinke die Hemmschwelle. Es sind nicht mehr nur Neonazi-Gruppen, die zuschlagen, sondern Gelegenheitsrassisten, die im Alltag Flüchtlinge beleidigen, bedrohen und angreifen, im Bus, beim Einkaufen, auf der Straße. Die Zahl und die Intensität rechter Angriffe haben aus Sicht des Vereins ein Ausmaß angenommen, das an die 1990er- Jahre erinnert.
Für die Flüchtlinge hat das drastische Folgen im Alltag. Wie etwa in Guben (Spree-Neiße), wo sich die Flüchtlinge kaum noch heraustrauen aus ihrer Unterkunft, wie Martin Vesely berichtet. In der Stadt gab es Demonstrationen direkt vor einer Asylunterkunft. Und es gab Übergriffe. Etwa im August, als ein Migrant beleidigt und geschlagen und durch die Stadt gejagt wird. Ausgerechnet in Guben, wo im Februar 1999 der algerische Asylbewerber Farid Guendoul, auch bekannt als Omar Ben Noui, von Neonazis in den Tod getrieben wurde. Der Fall ging als „Die Hetzjagd von Guben“ in die Geschichte ein. Nun schmeißen Neonazis wie Ende Dezember wieder mit Steinen die Fenster von Flüchtlingswohnungen ein oder greifen wie im August Menschen an, die für eine Veranstaltung zur Unterstützung von Flüchtlingen werben. Und die Flüchtlinge müssen erleben, wie ihnen im Supermarkt der Stinkfinger gezeigt wird oder wie andere Affenlaute machen. „Das und die Angriffe haben sie zermürbt, sie gehen kaum noch raus“, sagte Vesely. „Es ist diese Kombination aus Alltagsrassismus und Angriffen, aber niemand hilft.“ Für Flüchtlinge entstünden auf diese Weise Angsträume und ein Klima der Ausgrenzung.
Wobei direkte gewalttätige Angriffe nur Ausdruck eines viel tiefer sitzenden Rassismus sind, der für die Betroffenen unerträglich ist. Beispiel Zehdedick, eine Kleinstadt in Oberhavel. Opferberaterin Kartin Meinke berichtet von Flüchtlingen, die dort untergebracht war, einige Familien sind schon wieder weggezogen, weil sie es in der Stadt nicht mehr ausgehalten haben, diese tagtägliche Aggression, die Anfeindungen: Autofahrer drängen sie bewusst ab, fahren auf sie zu, bremsen im letzten Moment; im Supermarkt wird eine Schwangere Eritreerin mit einem Einkaufswagen gestoßen; der Besuch in der Sauna wird ihnen verweigert, angeblich weil die anderen Gäste etwas dagegen hätten. Die Kinder werden vom Spielplatz gedrängt. Und nachts wird an der Wohnung Sturm geklingelt. Und trotz aller offizieller Willkommenskultur der örtlichen Behörden finden sie selbst dort genau das nicht. Schlicht, weil ihnen niemand zuhört, auch weil Dolmetscher fehlen.
Und Justiz und Polizei? Die Flüchtlinge wenden sich bei Angriffen und Bedrohungen kaum noch an die Behörden – weil sie Angst haben, dass man ihnen nicht glaubt. Oder weil sie negative Folgen für ihr Asylverfahren fürchten. Sie wollen nicht noch mehr Ärger machen. Genau das erklärt für die Berater der Opferperspektive, warum ihre Statistik so stark von den Zahlen der Polizei abweicht. Nach PNN-Recherchen listet die Statistik der Polizei für 2015 weniger als 150 Attacken auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte auf, aber auch das ist ein Anstieg, das Dunkelfeld weitaus größer. Im Gegenzug kommt die Justiz aber kaum hinterher, rechten Tätern den Prozess zu machen. Wenn sie denn von der Polizei ermittelt werden. Abschreckung sieht anders aus. Und wenn es dann doch zum Prozess kommt, kommen die Täter laut Opferperspektive häufig genug einfach davon. Auch weil Betroffene und Zeugen dann längst abgeschoben sind: Opfer rassistischer Gewalt haben kein Bleiberecht, die üblichen Standards für Zeugen- und Opferschutz werden bei ihnen oft nicht eingehalten, beklagt der Verein.
Besorgniserregend ist aus Sicht der Opferperspektive auch die gestiegene Brutalität. Beispiel Finsterwalde: Dort gibt es eine Asylunterkunft, abgelegen am Flugplatz. Die Flüchtlinge müssen in die Stadt einen weiten Weg nehmen. Am 12. Dezember wird dort zwei Mal aus einem vorbeifahrenden Auto auf sie geschossen. Die Polizei sammelt später Patronenhülsen ein. Ob es scharfe Munition oder Platzpatronen waren, ist bislang nicht bekannt, wie auch über den Fall kaum etwas bekannt ist. Oder Nauen, der Brandanschlag auf eine als Flüchtlingsunterkunft vorgesehene Turnhalle im August.
Oder Cottbus, wo sich die Zahl rechter Angriffe von 10 auf 28 fast verdreifacht hat: Dort gab es im Herbst mehrere rechte Demonstrationen, von Neonazis, Anwohnern und der AfD. Nach einer Demonstration am 23. Oktober spielen sich in der Stadt erschreckende Szenen ab. Rechte Hooligans ziehen bis spät in die Nacht durch die Stadt und jagen Ausländer, werfen Flaschen auf sie. Insgesamt sieben Angriffe auf Menschen zählt die Opferperspektive später. Hitlergrüße werden gezeigt, an einer Wohnung von Syrern die Fensterscheiben mit Steinen eingeworfen, Böller fliegen auf Asylheime. Später werden sogar Studierende der BTU Cottbus angegriffen. Die Polizei greift nur zögerlich ein, obwohl in dieser Nacht schon mehrere Notrufe eingingen und trotz der rechten Demonstration am Abend. Zunächst wurden die Studenten als Angreifer gehandelt, dann schaltete sich BTU-Präsident Jörg Steinbach ein. Lange tauchten die Angriffe nicht in der Polizeistatistik für rechte Straftaten auf. Erst Wochen später werden die Vorfälle als fremdenfeindlich motiviert eingestuft.
Martin Vesely spricht von einem rassistischen Ausnahmezustand in Cottbus, Beschimpfungen, Hitlergrüße, Flaschenwürfe und abfälliges Spucken sind Alltag. Studenten würden ihre Praktikumssemester inzwischen lieber in anderen Städten absolvieren und schnell fort aus Cottbus. „Bisher hatte wir noch keine pogromartigen Angriffe, aber das war für mich eine Nacht, da haben wir es in Ansätzen damit zu tun gehabt“, sagt der Berater. „Es hätte in dieser Nacht kippen könne. Wir können von Glück sprechen, dass nicht mehr passiert ist.“
Und doch, sagt Katrin Meinke, ist etwas anders als in den 1990er-Jahren. Es sind die vielen freiwilligen Helfer, die die Flüchtlinge unterstützen.
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