Brandenburg: „Fragt heute, “
Die israelische Kinderpsychologin Batsheva Dagan erhält heute in Jerusalem den brandenburgischen Landesorden
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Sie ist klein, kaum größer als einen Meter fünfzig. Dennoch ist es manchmal schwer mit ihr Schritt zu halten. Batsheva Dagan ist es gewohnt zu laufen, sie liebt es, unterwegs zu sein. Auch von Freunden, die die 81-Jährige um Langsamkeit und Ruhepausen bitten, lässt sie sich nicht aufhalten. Verabredungen in einem Cafe markieren höchstens den Ausgangspunkt, die Gespräche finden im Gehen statt.
Denn die Spaziergänge und das Reisen beweisen ihr täglich, dass sie frei ist, dass sie den Schlüssel für ihr Leben selbst in der Hand hält. Weder das eine noch das andere ist selbstverständlich, denn Batsheva Dagan hat Ghetto und Konzentrationslager überlebt. 1925 wird sie in Lodz unter dem Namen Isabella Rubinstein geboren. Als die Deutschen einmarschieren, flieht sie mit ihren Eltern nach Radom, doch auch diese Stadt wird 1941 zu einem Ghetto. Batsheva Dagan engagiert sich in der illegalen jüdischen Jugendbewegung „Hashomer Hazair“, unternimmt Botengänge zum Warschauer Ghetto, trifft sich dort mit den Führern des bewaffneten Widerstandes – und flieht, als 1942 das Ghetto Radom aufgelöst wird. Sie gelangt an gefälschte Papiere, die sie als polnische Katholikin ausgeben, und muss als Dienstmädchen Zwangsarbeit in einer nationalsozialistischen Familie leisten. Sie wird denunziert, verhaftet und lernt sechs Gefängnisse in Deutschland kennen, bevor sie mit 17 Jahren im April 1943 nach Auschwitz deportiert wird.
Ihr wird die Uniform eines getöteten sowjetischen Soldaten zugeteilt, ohne Unterwäsche. Statt Socken erhält sie einen zerrissenen jüdischen Gebetsschal und dazu zwei linke Holzschuhe. Ihre Pritsche muss sie mit sieben anderen Frauen teilen. Im Krankenrevier, dem sie als Putzerin zugeteilt wird, muss sie jeden morgen die Körper berühren, um festzustellen, ob diese warm oder kalt sind. Sie erkrankt selbst an Typhus, leidet 16 Tage unter hohem Fieber und überlebt durch die Hilfe ihrer Cousine, die als Krankenpflegerin im Revier arbeitete. Im Januar 1945 wird das Lager Auschwitz liquidiert. Im offenen Viehwaggon wird Batsheva Dagan mit anderen Frauen in das Frauenkonzentrationslager im brandenburgischen Ravensbrück verschleppt. Die Neuankömmlinge werden in ein Zelt gepfercht, in dem sie nur mit gegrätschten Beinen sitzen können, um einander Platz zu gewähren. Batsheva Dagan kommt in das KZ-Außenlager im mecklenburgischen Malchow. Auf dem Todesmarsch gelingt ihr die Flucht.
Im September 1945 emigriert sie nach Palästina, lernt in drei Monaten Hebräisch, heiratet, bekommt zwei Kinder und beginnt als Kindergärtnerin zu arbeiten. Die Kinder wollen wissen, warum eine Nummer auf ihrem Unterarm tätowiert ist. Batsheva Dagan erkennt, dass den Kindern erzählt werden muss, was geschah. Denn Schweigen würde die Traumata weitertradieren. Sie erhält 1963 ein Stipendium der Universität Jerusalem, um Psychologie zu studieren, 1967 kann sie ihr Studium in den USA fortsetzen. Als Pionierin auf diesem Gebiet entwickelt sie eine psycho-pädagogische Methode, um Kindern die Ereignisse der Shoah so früh wie möglich zu vermitteln. Ihre Kinderbücher „Was geschah in der Shoah? Eine Geschichte für Kinder, die es wissen wollen“ und „Chica – Die Hündin im Ghetto“ sind inzwischen Standardlektüre in israelischen Kindergärten und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ihre Bücher haben immer ein Happy End, das Böse wird bestraft, denn Kindern, so betont sie, soll schließlich nicht die Hoffnung auf Gerechtigkeit genommen werden. Die Geschichte ihrer Cousine, die in Auschwitz ihre beiden Kinder retten konnte, erzählt Batsheva Dagan in ihrem neuesten, soeben auf deutsch erschienenen Buch „Wenn Sterne sprechen könnten“ .
Von ihrer eigenen elfköpfigen Familie haben nur vier Menschen überlebt. In den achtziger Jahren begann Batsheva Dagan, Gedichte zu schreiben, appellierende, ironische, poetische Erinnerungen. „Gesegnet sei die Phantasie – verflucht sei sie!“ heißt ein Gedichtband, der auch auf Deutsch erschienen ist und vor wenigen Tagen eine szenische Umsetzung im Theater Frankfurt (Oder) erfuhr. Batsheva Dagan reiste zur Generalprobe und sah sich alle sechs Aufführungen an. Die Akteure, deutsche und polnische Studenten, die gemeinsam mit Schauspielern die Gedichte inszenierten, ließen es sich nicht nehmen, die Autorin auf die Bühne zu holen, damit sie einige ihrer Gedichte selbst rezitiere.
Am vergangenen Sonntag dann wieder ein Auftritt. Im Rahmen der Gedenkfeier zur Befreiung von Ravensbrück ist Batsheva Dagan eine der wenigen anwesenden Überlebenden. Elegant gekleidet und sorgfältig geschminkt, tritt sie in schnellen Schritten ans Mikrophon und fordert mit ihrem Gedicht „An die, die zögern zu fragen“: „Fragt heute, denn heute gibt es noch Zeugen! Fragt heute, denn morgen wird es nur Literatur sein oder Auslegung.“ Einen Tag später trifft sie sich, wie auch schon in den vergangenen Jahren, mit den Landtagspräsidenten von Brandenburg und Mecklenburg, um gemeinsam mit Schülern über die Shoah zu diskutieren.
Für all dieses Engagement erhält Batsheva Dagan heute Abend gemeinsam mit Abram Lancman und Hannah Pick-Goslar in Jerusalem von Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) den Brandenburgischen Landesorden „Roter Adler“, die höchste Auszeichnung, die das Bundesland zu vergeben hat. „In besonderer Weise“ haben sich diese drei Shoah-Überlebenden „um das Wachhalten der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus verdient gemacht“ heißt es dazu in der Pressemitteilung. Batsheva Dagan, die fließend sieben Sprachen spricht und eine gefragte Gastdozentin in Israel, den USA und in Europa ist, wird wohl auch weiterhin reisen. „Ich werde zwar älter, aber nicht alt“, sagt sie schmunzelnd. Den Mittagsschlaf, den sie sich fest vorgenommen hatte, verschiebt sie ein wiederholtes Mal auf später. „Am liebsten“, sagt sie, „fliege ich im Frühling“ und lächelt in sich hinein. Dem irritierten Gegenüber erklärt sie: „Das ist die Zeit, in der wir befreit wurden. Im Flugzeug kann ich nun sogar über Ländergrenzen fliegen. Ich habe sie überlebt.“ Im August will sie wieder nach Deutschland kommen.
Lene Zade
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