Interview: Übergriffe auf Polizei: „Gewalt ist kein Naturereignis“
Der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr im PNN-Interview über Gewalt gegen Beamte und Warnungen der Gewerkschaften vor einer Zunahme von Übergriffen.
Stand:
Herr Behr, die Polizei ist Ihr Forschungsfeld. Immer wieder klagen Gewerkschaften, wie jetzt auch in Brandenburg, über zunehmende Gewalt gegen Beamte. Zu Recht oder ist das nur die alte Leier?
Alte Leier würde ich nicht sagen. Aber das ist einzuordnen in die gewohnten Dramatisierungen durch die Gewerkschaften. Und es ist nicht das erste Mal, dass sie die Gewalt als exorbitant gestiegen beschreiben. Demnach wird immer alles schlimmer. Da man nicht mehr von einem quantitativen Anstieg der Gewalt gegen Polizisten ausgehen kann, weil das eindeutig im Bundeslagebild widerlegt ist, erklären die Gewerkschaften einfach, dass es qualitativ mehr wird.
Wie sieht es bei der Qualität der Gewalt gegen Polizisten aus, wird es brutaler?
Ich habe mir die Äußerungen der GdP Brandenburg dazu angeschaut. Das Problem ist, es geht an einer Stelle um Übergriffe, an anderer Stelle um Angriffe und dann wieder um Gewalt. Das bringt uns in das Dilemma, dass Innenministerium und GdP nicht genau erklären, was sie mit Gewalt meinen. Wenn Gewalt schon beim Anpöbeln und Anspucken anfängt, dann sind das natürlich andere Zahlen als jene 0,5 Prozent der Beamten, die nach einem Einsatz ihren Dienst wegen einer Verletzung nicht mehr fortsetzen können.
Das Innenministerium spricht von 870 Übergriffen im Jahr 2012, das ist konkret.
Bei der Gewalt muss unterschieden werden zwischen der Wirkungsseite aus Sicht des Opfers und der Absichtsseite des Täters. Wenn ich einen Angriff plane, aber es passiert nichts, weil der Polizist das abwehrt, dann gibt es die Absicht, aber die Wirkung bleibt gleich null. Da machen Gewerkschaft und Innenministerium aber keinen Unterschied zwischen vollendeter und versuchter Tat. Dabei ist das strafrechtlich entscheidend. Daher stimmen die Zahlen hinten und vorne nicht. Es fehlen die Referenzgrößen. Was soll man damit anfangen? Ich habe das für Hamburg errechnet. Im Jahr 2011 gab es nach Angriffen 214 Dienstunfallanzeigen, 35 Beamte waren so stark verletzt, dass sie den Dienst nicht fortsetzen konnten. Wenn ich das in Relation zu den mehr als 500 000 Einsätzen setze, dann liegt die Quote der verletzten Beamten bei 0,007 Prozent. Das ist ein anderer Schnack als die bloße Zahl von Übergriffen.
Jeder Autofahrer kennt das, Verkehrskontrolle, ein Beamter kommt zum Fahrer und fragt: „Na, Bürger, was haben wir denn falsch gemacht?“ Geht es bei der Klage über die Gewalt gegen Polizisten vielleicht nur um den Respekt?
Wenn wir schon beim Respekt sind, dann geht es um eine wechselseitige Respektierung. Und Ihr schönes Zitat, das ich in abgewandelter Form auch gut kenne, macht ja das Problem deutlich: In vielen Fällen, in denen es später zu Gewalt oder Widerstand kommt, lässt auch der Respekt der Beamten gegenüber dem Bürger zu wünschen übrig. Das bedingt sich also gegenseitig. Insgesamt glaube ich, dass die Polizei mit physischer Gewalt eigentlich gut zurechtkommt. Das Problem scheint mir eher eine Entfremdung der Polizei von der Bevölkerung zu sein, mit der sie zu tun hat. Das sind Kommunikationskonflikte. Die Erwartung der Polizisten an die Bevölkerung wird nicht mehr erfüllt, dass nämlich die Bevölkerung anständig mit ihnen umgeht. Die Beamten sind aus eigener Sicht geschätzt, respektiert, gut beleumundet, sie können Achtung erwarten. Nur wird das selten bedient. Das Ansehen ist hoch bei Leuten, die nicht mit der Polizei in Berührung kommen. In prekären Situationen haben die Beamten mit Leuten zu tun, die nicht mehr viel vom Staat erwarten, wenig Grund für Respekt gegenüber Staat und Gesellschaft haben, weil diese ihnen gegenüber auch wenig Respekt zeigen. Von Menschen aus prekären Lebensmilieus kann man als Profi für Konfliktarbeit nicht erwarten, dass sie dankbar gegenüber der Polizei sind.
Was fehlt den Polizisten denn?
Viele haben keine positive Identität als Troubleshooter, als Problemlöser, ausgebildet. Sie erwarten stattdessen Respekt. Das kann man aber nicht erzwingen, schon gar nicht mit Gewalt. Damit verschafft man sich nur Achtung oder man sorgt für Angst, aber nicht für Respekt. Die Frage ist doch: Wie viel Respekt bringen Polizisten gegenüber ihrem Publikum auf? Der Polizei fehlt oft eine spezifische Kompetenz, die im Bereich der sozialen Arbeit als Kommunikationskompetenz mit Menschen in prekären Lebenslagen zu finden ist. Mit anständigen Menschen aus der Mittelschicht zu kommunizieren ist keine Kunst. Anders bei Leuten, die das nicht können. Hier ist polizeiliches Troubleshooting gefragt, aber hier ist die Polizei insgesamt auch relativ weit weg von Professionalität. Die Polizei, zumindest die Schutzpolizei im Wach- und Wechseldienst, ist nicht darin trainiert, mit einer Metaebene zu kommunizieren. Da wird dann schnell Ruppigkeit als Gewalt gesehen. Man nimmt insofern die Klientel zu ernst, man hat keine Möglichkeit, das, was da geschieht, auch auf einer anderen Ebene zu deuten.
Aber regelmäßig werden Beamte im Einsatz von einer schnell herbeigerufenen Menschenmenge umringt, bedrängt und attackiert, in Berlin ist das an der Tagesordnung. Selbst im noblen Zehlendorf werden Beamte von feiernden Jugendlichen mit Flaschen beworfen.
Es gibt immer Brennpunkte in Kommunen und Stadtteilen. Aber wenn man auf das Auftreten neuer Phänomene moralisch reagiert, ist das immer schlecht. Das muss sich ändern. Das Einzige, womit die Gewerkschaft der Polizei und einige Politiker gegenwärtig reagieren, ist die Forderung nach einem neuen Gesetzesparagrafen, mit dem nicht mehr die Körperverletzung geahndet, sondern schon der folgenlose Angriff auf Vollstreckungsbeamte unter Strafe gestellt wird. Wer die Faust hebt, soll bestraft werden.
Aber Polizisten fühlen sich doch einfach bedroht, das kommt nicht von ungefähr.
Durch die Dramatisierung der Opferzahlen entsteht in der Polizei ein Klima, das wir als defensive Solidarität bezeichnen. Die Beamten, auch die, die nicht angegriffen wurden, fühlen subjektiv, dass die Gewalt gestiegen ist. Und sie verhalten sich faktisch so, als würde die Gewalt steigen und gehen entsprechend mit dem Publikum um. Und wenn es um gewalttätige Übergriffe oder Fehlverhalten von Beamten geht, wird das von den Gewerkschaften oft so kommentiert, als wären die Polizisten die eigentlichen Opfer. Da wird ein großer Schutzmantel über alle Polizisten ausgebreitet. In diesem Schutzmantel lässt sich das ein oder andere härtere Vorgehen besser legitimieren als bei einer kritischen Sicht auf Polizeiarbeit. Aber mein Kernpunkt ist: Gewalt ist ein Interaktionsphänomen und kein Naturereignis.
Sie sprechen die Gewaltexzesse von Beamten an, die in den vergangenen Monaten vermehrt publik wurden. Es gibt Videomaterial, die Bilder sind erschreckend brutal. Was sagen sie als Wissenschaftler dazu?
Die Gewerkschaften deklarieren das als Einzelfälle, sie haben keinen Blick für die strukturelle bzw. die Interaktionskomponente von Gewalt. Dabei wächst faktisch in den Behörden eine Fehlerkultur, es gibt behördenintern viel Aufklärung, man will lernen. Die Gewerkschaften schweigen entweder oder sie sprechen reflexartig von Gewalt gegen Polizisten. Das ist eine antireflexive Haltung, das eigene Gewalthandeln wird dabei nämlich völlig verdrängt. Die Aufgabe und Verantwortung, reflexiv mit Gewalt umzugehen, erfüllen sie nicht. Dabei glaubt keiner mehr an Einzelfälle von Polizeigewalt. Die Verlautbarungen der Gewerkschaften zur Gewalt machen sie zum Teil des Problems, nicht zum Teil der Lösung.
Aber in der Ausbildung der Polizisten wird doch sicherlich reagiert.
Es wird vor allem mehr Eigensicherung trainiert. Das ist aber rein technisch und taktisch, damit wird die Spaltung erhöht zwischen zivilem Auftreten als Bürgerpolizei und einer militärisch auftretenden Polizei. Außerdem besteht etwa seit dem Vermummungsverbot zwischen Demonstranten und Polizei faktisch keine Waffengleichheit mehr. Die Beamten sind heute sehr viel besser geschützt als die Gegenseite. Wenn es jetzt im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Polizisten bei der Ausbildung um mehr Eigensicherung geht, dann erreichen wir nur, dass die Polizisten ruppiger auftreten und den Kontakt zu den Bürgern verlieren. Dabei müsste man aber sehr genau hinschauen, in welchen Situationen welche Konflikte mit welchen kommunikativen und deeskalierenden Maßnahmen frühzeitig entschärft werden können, und wie der Einstieg in die Gewaltspirale besser verhindert werden kann. Selbst in Brennpunkten gibt es kluge und nachdenkliche Beamte, die überlegt handeln und weniger martialisch auftreten, von denen wissen wir aber noch zu wenig. Die Trainer müssen dorthin, wo die Probleme sind, die Fortbildung muss vor Ort stattfinden. Wir wissen wenig von der Polizistenweisheit der Straße. Das muss sich dringend ändern.
Warum also warnt die Gewerkschaft dann aber vor einer wachsenden Gewalt gegen Polizisten?
Es geht in erster Linie um die Vertretung der Mitgliederinteressen, aber sofort danach auch um die Sicherung und Werbung von Mitgliedern bei den zwei großen Polizeigewerkschaften. Und es geht um Einfluss in der Politik. Hier beanspruchen die Gewerkschaften Expertenstatus für sich. Bei Anhörungen werden Gewerkschaftsvertreter immer als Erste gehört, die Wissenschaftler immer zuletzt. So zum Beispiel bei der Debatte um die Kennzeichnungspflicht von Polizisten. Ich weiß nicht, woher die Gewerkschaften ihre Bedrohungsszenarien her haben. Sie können einfach etwas in die Welt setzen, ohne es beweisen zu müssen, zum Beispiel die Bedrohung von Polizeibeamten im Internet. Ein normaler Sachbearbeiter der Polizei würde für die Behauptung, dass Polizeibeamte zunehmend Opfer von Bedrohung im Internet werden, Beweise liefern müssen. Die GdP muss das nicht. Hier wird mit Suggestionen und Halbwahrheiten gearbeitet. Das mag kurzfristig die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder befriedigen, aber es nagt nachhaltig am Ruf der Polizei und ihrer Professionalität. Die Frage ist doch letztlich: Für wen ist die Polizei da und wem gegenüber ist sie verantwortlich?
Das Interview führte Alexander Fröhlich
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