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Brandenburg: Hartz-IV-Welle überschwemmt Gerichte

Die Sozialgerichte in Brandenburg und Berlin sind überlastet. Mehr Klagen trotz sinkender Arbeitslosigkeit

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Potsdam/Berlin - Für Brandenburger wird es immer schwieriger, ihr Recht vor den Gerichten zu bekommen. Nach den seit Jahren notorisch überlasteten Verwaltungsgerichten melden nun auch die Sozialgerichte den Notstand. Die Sozialgerichte in Brandenburg und Berlin würden von einer Klageflut überschwemmt, sagte gestern der Präsident des gemeinsamen Landessozialgerichtes Berlin-Brandenburg, Jürgen Blaesing, in Potsdam. Entscheidende Ursache dafür sei die dramatische Zunahme der Verfahren „im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (Hartz-IV). Allein im ersten Quartal 2007 seien in Brandenburg 14 000 Widersprüche gegen Hartz-IV- Bescheide registriert worden. „Wir wollen inzwischen nicht mehr von einer Flut sprechen, denn da käme irgendwann auch einmal eine Ebbe. Die ist aber nicht in Sicht“, sagte gestern der Berliner Sozialrichter und Sprecher des Berliner Sozialgerichtes, Michael Kanert. „Wir befürchten, dass die Zahlen weiter so hoch bleiben.“

Sowohl am obersten, gemeinsamen Gericht beider Länder als auch in den unteren Instanzen führten die Widerspruchsverfahren gegen die Hartz-Bescheide zu einer hohen Zahl von Prozessen vor den Gerichten, weshalb auf allen Ebenen mehr Personal erforderlich sei, so Gerichtspräsident Blaesing. Sonst sei der effektiver Rechtsschutz für die Bürger in Gefahr. Auch er sieht keine Aussicht auf Besserung und sprach von „keiner vorübergehenden Entwicklung“. Allein das Gericht in Potsdam gehe davon aus, dass zum Ende dieses Jahres 1000 Verfahren mehr zu bearbeiten sein werden als im Vorjahr.

2006 habe es beim Sozialgericht Potsdam 6420 Eingänge gegeben, so Blaesing. Verzeichneten die Sozialgerichte 2005 noch 13 318 Verfahrenseingänge, so seien es im vergangenen Jahr schon 15 523 gewesen, für dieses Jahr würden 16 410 prognostiziert. Die Zahl der Verfahren am Landessozialgericht sei von 4718 (2005) auf 5316 (2006) angestiegen und soll dieses Jahr 5746 erreichen.

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg mit Sitz in Potsdam besteht seit dem 1. Juli 2005. In erster Instanz entschieden die Sozialgerichte in Berlin, Frankfurt (Oder), Neuruppin, Potsdam und Cottbus. In zweiter Instanz landen die Verfahren dann vor dem Landessozialgericht.

Nach Angaben des brandenburgischen Justizministeriums wurden inzwischen Anstrengungen unternommenen, um die Sozialgerichtsbarkeit personell zu stärken. „Anhaltend steigende Eingänge erhöhen hier jedoch weiter den Personalbedarf“, heißt es in einer Mitteilung. An das gemeinsame Landessozialgericht seien 16 Richter versetzt oder abgeordnet worden. Die Gerichte in Cottbus, Frankfurt (Oder), Neuruppin und Potsdam seien um 14 Richter verstärkt worden, darunter mit fünf Neueinstellungen.

Im Berliner Umland und insbesondere am Sozialgericht Potsdam seien die Fallzahlen nach Inkrafttreten der „Hartz IV“-Gesetze stärker gestiegen als in Berlin-fernen Regionen. Das dürfte nach Angaben des Justizministeriums in Potsdam auf die „andere Bevölkerungsstruktur, aber auch auf andere Mentalität“ zurückzuführen sein. „Gut informierte und großstädtisch geprägte Personen sind eher bereit, um ihr – auch vermeintliches – Recht zu kämpfen, als im ländlichen Raum lebende Menschen.“

Die Sozialgerichte beschäftigen sich zudem mit Rentenfragen oder Problemen mit den Krankenkassen. „Nach der Wiedervereinigung waren wir praktisch ein Rentengericht, dieser Bereich macht aber inzwischen nur noch einen kleinen Teil aus“, so der Sprecher des Berliner Sozialgerichts Kanert. Während es vor zwei Jahren, also kurz nach Inkrafttreten der Arbeitsmarktreform, vor Gericht hauptsächlich darum ging, von den Jobcentern überhaupt eine Entscheidung zu erhalten, machen diese Versäumnisse der Ämter in Berlin inzwischen nur noch weniger als 20 Prozent der Hartz-IV-Fälle aus. Seit das Bundessozialgericht den Regelsatz in Höhe von derzeit 347 Euro für einen Alleinstehenden als verfassungsgemäß bezeichnet hat, wird auch darum nicht mehr gestritten.

Neu, so Kanert, sei hingegen, dass gegen Bescheide zur Mietkostenübernahme und Rückforderungen der Jobcenter vorgegangen wird. Gerade bei den Rückforderungen hätten viele Bescheide Formfehler. Zudem hätten die Jobcenter oftmals aus eigenem Verschulden zu viel gezahlt, weil sie beispielsweise noch Monate Leistungen überwiesen haben, obwohl der Betroffene angegeben hatte, eine Arbeit gefunden zu haben.

Der Gang zum Gericht macht sich für viele Bezieher von Arbeitslosengeld II bezahlt. In gut 45 Prozent der Fälle sind sie erfolgreich. Die allermeisten Hauptverfahren werden aber ohne ein richterliches Urteil abgeschlossen; in mehr als 83 Prozent der Berliner Fälle einigen sich die Prozessbeteiligten mit Hilfe des Richters.

Weitere Probleme für die Zukunft befürchtet Kanert, wenn in nächster Zeit die Befristungen der Arbeitsverträge von etlichen Mitarbeitern der Jobcenter und der kommunalen Arbeitsgemeinschaften wie in Berlin und Potsdam auslaufen und wieder neue Beschäftigte in die Materie eingearbeitet werden müssten. „Hartz IV ist fast so komplex und kompliziert wie unser Steuerrecht“, sagt Kanert.

Laut Angaben der Regionaldirektion für Arbeit laufen in diesem Jahr rund 2000 Teilzeitverträge aus; lediglich 645 dieser Stellen können in Berlin im Laufe des Jahres in unbefristete Stellen umgewandelt werden sowie 100 weitere zu Beginn des kommenden Jahres. Dass sich die Jobcenter-Sachbearbeiter immer wieder mit neuen Sachverhalten beschäftigen müssen, wurde gestern bei einer Verhandlung deutlich (siehe auch Kasten). Als Zeugin berichtete eine Arbeitsvermittlerin des Job-Centers Berlin-Pankow, dass sie erst im Internet googeln musste, um bestimmte Begriffe zu klären. Der Sachverhalt sei ihr unbekannt gewesen. In diesem Fall ging es um das „Umgangsrecht“ eines Vaters, seinen Sohn regelmäßig zu sehen, und die Übernahme von Fahrtkosten zum Wohnort des Kindes.

Der Gang zum Sozialgericht ist kostenfrei, wenn man gegen eine Entscheidung des Jobcenters oder der kommunalen Arbeitsgemeinschaften vorgehen will. Allerdings muss man zuerst einen Widerspruchsbescheid erhalten haben.(mit dpa und ddp)

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