Brandenburg: Hoffen auf den Kuckuck
Seit Jahren breitet sich der Eichenprozessionsspinner im Land Brandenburg rasant aus. Ganze Alleen und Eichenbestände haben die Raupen mit den giftigen Härchen in diesem Jahr bereits kahl gefressen. Schon stornieren in der Prignitz erste Gäste ihren Urlaub. Natürliche Feinde haben die Schädlinge kaum.
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Perleberg - Eigentlich soll Uwe Neumann Lust auf Urlaub in der Prignitz machen, die zahlreichen Radwege anpreisen, Touristen ausgedehnte Wanderungen durch die unberührte Natur im Nordwesten Brandenburgs empfehlen. Doch derzeit ist in der Prignitz an sorglosen Urlaubsspaß in der Natur kaum noch zu denken. Das weiß auch der Geschäftsführer des regionalen Tourismusverbandes und rät deshalb zur Vorsicht: „Wir appellieren an die Gäste, vorsichtig zu sein und lange Sachen zu tragen. Außerdem sollte man beim Radfahren eine Sonnenbrille aufsetzen, damit die Brennhaare nicht in die Augen gelangen.“ Der Grund für die Warnung ist ein Schädling, der noch vor einigen Jahren im Land Brandenburg als wahrer Exot galt, sich mittlerweile aber mehr als ein Viertel der gesamten Landesfläche erobert hat. Gemeint ist der sogenannte Eichenprozessionsspinner, ein Nachtfalter aus der Familie der sogenannten Zahnspinner, dessen Raupen nicht nur für den Menschen giftig, sondern auch noch zur Bedrohung für den Inbegriff des deutschen Baumes, der Eiche, geworden sind.
Ganze Bestände sind den gierigen Schädlingen in diesem Jahr bereits zum Opfer gefallen, nahezu überall im Land hängen an den Eichen die markanten sackartigen Nester und je weiter man in Richtung Nordwesten fährt, desto größer ist das Ausmaß der Schäden. An der Bundesstraße 96 zwischen Berlin und der südlichen Landesgrenze zu Mecklenburg-Vorpommern sind die Eichen am Straßenrand fast vollständig kahl gefressen. Forstexperten zufolge sind 200 bis 300 Hektar Wald in der Prignitz zum wiederholten Mal derart stark befallen, dass die Bäume abzusterben drohen. Erst Ende Juni hatte das Deutsche Rote Kreuz aus Brandenburg/Havel ein Ferienlager am Rudower See bei Lenzen wegen der Raupen-Plage abgebrochen. Innerhalb nur weniger Tage klagten rund die Hälfte der Jugendlichen über Hautausschläge. Ein Teilnehmer des Feriencamps hatte nach einer Radtour entzündete Augen. Zudem sollen bereits Dorffeste abgesagt worden sein.
Der Tourismusverband Prignitz informiert Reisende auch im Internet über das Problem. „Außerdem haben einige Kommunen Warnschilder aufgestellt“, berichtet Neumann. Einigen Urlaubern haben die Eichenprozessionsspinner offenbar bereits den Spaß verdorben. Punktuell würden leider bereits Stornierungen gemeldet, räumt der Chef-Touristiker ein. Aus der Kreisverwaltung heißt es, immer mehr Fälle mit Hautreizungen seien zu verzeichnen, Postkarten und Briefe aufgebrachter Fahrrad-Touristen würden sich häufen. Uwe Neumann hat für die wachsende Verunsicherung durchaus Verständnis. „Wenn Sie Alleen haben und die sind komplett kahl, dann ist irgendetwas nicht gesund.“ Prignitz-Landrat Hans Lange (CDU) bezeichnet die Lage als ernst.
Tatsächlich hat der Befall in diesem Jahr ein in der Region bislang nicht bekanntes Ausmaß erreicht. Ursprünglich war der Eichenprozessionsspinner vor allem im südeuropäischen Raum verbreitet, doch vom Klimawandel begünstigt, erobert er sich zunehmend auch Gebiete im nördlichen Mitteleuropa. Noch 2004 wurden die Raupen im Land Brandenburg lediglich in zwei kleineren Gebieten im Havelland und im Kreis Ostprignitz-Ruppin beobachtet. Bereits vier Jahre später war auch die Region Potsdam erstmals betroffen. 2011 meldeten Forstexperten des Landes den Befall von etwa einem Viertel der Landesfläche. Eine Schätzung für dieses Jahr möchte Professor Matthias Freude, Präsident des brandenburgischen Landesumweltamtes (Lua), zwar nicht abgeben, aber fest stehe bereits: „Wir haben eine Massenvermehrung, die es in diesem Umfang in unseren Breiten bisher noch nie gegeben hat.“ Grund für die explosionsartige Vermehrung sei die außergewöhnliche Wetterlage im April und Mai gewesen. „Extrem heiß und und über mehrere Wochen trocken. Genau das, was die frisch geschlüpften Schmetterlingsraupen brauchen“, berichtet der Lua-Präsident. Trotz der offenbar zunehmenden Verbreitung des Eichenprozessionsspinners im Land Brandenburg lasse sich keine seriöse Prognose für das kommende Jahr abgeben, sagt Freude. „Da kann es wieder völlig anders aussehen. Eine Regenwoche Anfang Mai und die Bestände werden merklich dezimiert sein.“
Der Raupenplage durch menschliches Eingreifen Herr zu werden, ist unterdessen kompliziert – zum einen, weil sich für eine wirklich nachhaltige Bekämpfung nur ein kleines Zeitfenster von knapp vier Wochen im April bietet. Zum anderen, weil die behördlichen Auflagen umfangreich sind und die nötige Genehmigung vom Bund nur schwer zu bekommen ist. Denn angegriffen wird aus der Luft mit dem Insektizid Dipel ES. Das Präparat wird von einem Helikopter aus auf die befallenen Bäume gesprüht. In diesem Frühjahr ließ das brandenburgische Landwirtschaftsministerium nach eigenen Angaben zum Schutz der Eiche landesweit 770 Hektar Wald auf diese Weise behandeln. Für den Einsatz jedoch wird eine Ausnahmegenehmigung vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit benötigt. Beim Bund jedoch werde das Eichenprozessionsspinner-Problem nach wie vor überwiegend als lokales Ereignis gewertet, meint Ministeriumssprecher Jens-Uwe Schade. Entsprechend zögerlich sei die Behörde bei Genehmigungen für Großeinsätze. Der Landesverband Brandenburg des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) lehnt sogar den Einsatz von Chemikalien gegen den Eichenprozessionsspinner in brandenburgischen Wäldern grundsätzlich ab. Dipel ES töte nicht nur die von der Forstwirtschaft zu Schädlingen degradierten Schmetterlingsraupen, sondern auch deren natürliche Gegenspieler, erklärte jüngst Jörg Gelbrecht, Sprecher des Landesfachausschuss Entomologie beim NABU Brandenburg.
Dort wo die Gefahr für Menschen am größten ist, also innerhalb der Ortschaften, etwa auf Kitaspielplätzen, öffentlichen Parks und waldnahen Siedlungen, ist die Bekämpfung der Raupen sogar noch schwieriger, weil die Auflagen noch strenger sind. Zudem greife dort nicht das Argument des Pflanzenschutzes, sondern es müssten Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit beantragt werden, erläutert Schade. Dafür seien aber wiederum die Gesundheitsbehörden zuständig, meint der Ministeriumssprecher. Derzeit behelfe man sich auf Landesebene mit einer interministeriellen Arbeitsgruppe, um Aktionen im kommenden Jahr noch besser zu koordinieren. „Wir müssen aber auch mit dem Bund reden“, betont Jen-Uwe Schade.
Weil in diesem Jahr der Zug ohnehin abgefahren ist, bleibt eigentlich nur das Absaugen und Abflammen der Gespinste durch Spezialfirmen. Doch landesweit sind die Schädlingsfirmen komplett ausgebucht, können die Berge von Aufträgen gar nicht mehr abarbeiten. Vor einem Angriff mit einem Insektizid schützen die Raupen jetzt ihre Gespinste. So dicht sind die Nester gewebt, dass sie nicht nur Wasser und Kälte abhalten, sondern auch Insektengift. „Das Gespinst ist die Überlebensgarantie des Eichenprozessionsspinners“, bestätigt Professor Matthias Freude.
Neben einem verregneten kalten April hofft der Lua-Präsident auf die natürlichen Feinde der haarigen Raupen. Viele sind es nicht, weil auch den meisten Singvögel und selbst Ameisen die Schädlinge zu giftig sind. „Doch der Kuckuck mag die Raupen gerne“, versichert Freude. Ein weiterer Retter vor der Plage aus der Tierwelt werde aber wohl eine Weile auf sich warten lassen. „Die wirklichen Feinde sind kleine Parasiten und heißen Raupenfliegen. Sie legen ihre Eier in die Raupen des Eichenprozessionsspinners ab. Später frisst deren Larve die Raupe von Innen auf.“ Allerdings hinke die Population von Parasiten in der Regel der ihrer Wirtstiere um zwei bis drei Jahre hinterher.
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