Brandenburg: „I go back to my village“
Ein Brandenburger der ersten Stunde: Hans Otto Bräutigam erinnert sich – Auszüge aus seinem neuen Buch im exklusiven Vorabdruck
Stand:
Hans Otto Bräutigam ist einer der Geburtshelfer des Landes Brandenburg. Von 1990 bis 1998 war er unter dem damaligen Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) erster Justizminister des neu gegründeten Bundeslandes. Zuvor hatte Bräutigam sieben Jahre die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR geleitet. Über seine Zeit in Brandenburg hat der heute 84-Jährige ein Buch geschrieben, das am Montag erscheint und am 25. März bei einer Lesung mit Manfred Stolpe in der Bibliothek des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Am Neuen Markt 9 d, ab 19 Uhr vorgestellt wird. Exklusiv veröffentlichen die PNN vorab ab heute täglich ausgewählte Passagen.
Wie es der Zufall wollte, hatten wir in den letzten Wochen meiner Amtszeit in New York privaten Besuch aus Berlin: Eva und Jens Reich. Ich kannte den Bürgerrechtler, der während der friedlichen Revolution in der DDR eine führende Rolle gespielt hatte, nicht aus meiner DDR-Zeit, sondern war ihm zum ersten Mal im Mai 1990 bei einer Podiumsdiskussion am Bard College im Staat New York begegnet. Dort hatte er mich sehr beeindruckt, durch sein zurückhaltendes Auftreten, seine klaren und nachdenklichen Diskussionsbeiträge und auch durch sein makelloses, elegantes Englisch. Nach der Veranstaltung hatte Jens Reich einige Tage bei uns in der Residenz gewohnt und wir hatten ihn eingeladen, mit seiner Frau wiederzukommen. (...)
Jens Reich gehörte im September 1989 mit Katja Havemann, der Witwe von Robert Havemann, der Malerin Bärbel Bohley und dem Rechtsanwalt Rolf Henrich zu den Unterzeichnern des Aufrufs „Die Zeit ist reif“, in dem die DDR-Bürger aufgerufen wurden, sich an der Diskussion lebenswichtiger Probleme ihres Landes zu beteiligen. Wenig später gründete er mit Gleichgesinnten das Neue Forum, eine Bürgerrechtsbewegung, die dann nach dem Sturz Honeckers im Oktober 1989 offiziell zugelassen wurde. In den Wahlen am 18. März 1990 wurde Jens Reich auf der Liste von Bündnis 90 in die Volkskammer gewählt. Nach der Vereinigung am 3. Oktober zog er sich aus der Politik zurück und widmete sich wieder seiner wissenschaftlichen Arbeit im Institut für Molekularbiologie in Berlin-Buch. In unseren Gesprächen in New York lernten wir Eva und Jens Reich als kritische Beobachter des Einigungsprozesses kennen. Von den politischen Parteien erwarteten sie, dass sie die Erfahrungen der DDR-Bürger in der friedlichen Revolution auch im vereinten Deutschland zur Geltung bringen. Sie waren nicht gegen die deutsche Einheit, doch hätten sie es wohl vorgezogen, wenn die Vereinigung nicht durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, sondern auf dem gewiss mühsameren Weg über eine neue gesamtdeutsche Verfassung vollzogen worden wäre.
Jens Reich hat mich in New York durch seine nüchterne, nachdenkliche Betrachtung der politischen Entwicklung beeindruckt. Ich kann nicht sagen, dass er mir für meine neue Aufgabe in Potsdam Mut gemacht hätte. Er gab mir den Rat, die Schwierigkeiten nicht zu unterschätzen, die bei der Integration der ehemaligen DDR in das System der Bundesrepublik noch zu bewältigen waren. Die Anpassung der Ostdeutschen an die westlichen Lebensverhältnisse werde länger dauern, als viele sich das unmittelbar nach der Vereinigung vorstellten. Ich sollte bald erfahren, wie recht er hatte.
Am gleichen Tag, an dem Eva und Jens Reich nach Deutschland zurückflogen, verabschiedeten wir uns auf einem Empfang in der Residenz. Viele Kollegen aus allen Teilen der Welt gaben uns die Ehre. In einer kurzen Ansprache erklärte ich die Gründe, die mich veranlassten, eine neue politische Aufgabe im vereinten Deutschland zu übernehmen. Zum Schluss sagte ich: „You understand, I go back to my village.“ (...)
Am Abend flog ich nach Berlin. Am Flughafen Tegel mietete ich einen Leihwagen und fuhr nach Potsdam, wo ich in dem mir aus DDR-Zeiten gut bekannten Interhotel ein Zimmer bestellt hatte.
(Fortsetzung folgt)
Hans Otto Bräutigam: Meine Brandenburger Jahre – Ein Minister außer Diensten erinnert sich. Das Buch hat 280 Seiten und ist im Verlag für Berlin-Brandenburg (vbb) erschienen. Es kostet 22,99 Euro.
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