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Siedler. Südosteuropäische Sinti und Roma suchen eine neue Heimat in Berlin. Schätzungen des Senats zufolge leben derzeit rund 6000 von ihnen in der Stadt. Genaue Zahlen gibt es aber nicht, weil nur das Heimatland registriert wird.

© dapd

Brandenburg: „Ihr schafft das!“

Schulen in Berlin-Neukölln haben Hunderte Roma-Kinder ohne Deutschkenntnisse aufgenommen Mit Hilfe von Sprachmittlern versuchen sie, die Zuzügler im Schulalltag zu integrieren

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Berlin - „Der Mann ist “ steht auf einem Zettel, daneben ein kleines Häufchen ausgeschnittener Adjektive. Was passt dazu? Laut, grün, krank? Doch Dorina (Name geändert) grübelt noch über etwas anderem: „Der M-a-n-n“, buchstabiert sie leise. Dorina ist elf Jahre alt, Roma, und geht, obwohl sie kaum deutsch kann, in die vierte Klasse der Hans-Fallada- Schule in Neukölln.

In die Nachbarschaft der Schule ziehen seit 2008 nach dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien immer mehr Roma-Familien. Ein Trend der nach Angaben von Berlins Integrationsbeauftragten, Günter Piening, auch in anderen Stadtteilen zu beobachten sei. Insgesamt sollen in Berlin schätzungsweise 6000 Roma und Sinti leben, genaue Zahlen gibt es nicht, weil nur das Heimatland registriert wird. Die drei Senatsverwaltungen Bildung, Integration und Finanzen und die drei am stärksten betroffenen Bezirke Mitte, Neukölln und Tempelhof-Schöneberg wollen das Problem jetzt in einer Arbeitsgruppe auf Senatsebene angehen. Neuköllns Migrationsbeauftragter Arnold Mengelkoch macht „ein Schlupfloch im System“ für die große Einwanderung verantwortlich: Für rumänische und bulgarische Bürger gilt seit 2007 die Freizügigkeit innerhalb der EU. Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt ihnen in Deutschland verwehrt, sie können aber ein Gewerbe anmelden. Dadurch sichern sie sich ein dauerhaftes Bleiberecht. „Und wenn es nicht klappt mit dem Gewerbe, haben sie in kurzer Zeit Anspruch auf Sozialleistungen und Kindergeld“, sagt Mengelkoch.

Die meisten Roma-Kinder auf der Hans-Fallada- Schule kommen aus Familien, die aus dem Dorf Fântânele nahe Bukarest stammen. Das Problem: Viele haben keine Deutschkenntnisse und in Rumänien nie eine Schule besucht. „Wenn ich fünf Schüler in der vierten Klasse habe, die nicht lesen, schreiben und rechnen können, dann sprengt das den Unterricht“, sagt Schulleiter Carsten Paeprer. Seine Schule hat bereits mehr als 90 Prozent Migrationsanteil. Die neue Zuwanderung nennt er eine „Herausforderung“.

Vor der steht ganz Neukölln, das zeigt der zweite Roma-Statusbericht, den der Bezirk erstellt hat. „Wir wussten nicht, wer und wie viele angekommen sind, aber die Schulen wurden immer voller“, sagt Franziska Giffey, Bildungsstadträtin und Koordinatorin des Berichts. Allein seit Januar sind 74 Schüler aus Rumänien und Bulgarien an Neuköllner Grund- und Oberschulen angemeldet worden. Bis zu 700, glaubt der Bezirk, könnten hier am Ende des Jahres zur Schule gehen. Sekundarschulen betrifft das besonders: Bereits jetzt kann 50 angemeldeten Jugendlichen kein Platz zugewiesen werden. Drei Kleinklassen, die ab Ostern eröffnen, sollen das Problem auffangen. Doch wie viele kommen noch? „Wir brauchen zwingend mehr Personal, das erst einmal die Sprache vermittelt“, sagt Giffey. Für alle 30 Schulen in Neukölln hat die Senatsverwaltung bis elf befristete Sprachmittlerstellen genehmigt. Sie leiten Lerngruppen, in denen Schüler wie Dorina zwei- bis dreimal in der Woche die wichtigsten Grundlagen lernen sollen.

Zwei Vermittler hat die Hans-Fallada-Schule vor einem Jahr bekommen, da waren es noch 40 Roma-Kinder, heute sind es 90. Sie machen mittlerweile mehr als 20 Prozent der Schüler aus. Seit diesem Schuljahr gibt es eine eigene erste Klasse für 17 Roma-Kinder, geleitet von einem deutschen Lehrer und einer Sprachmittlerin. Im kommenden Schuljahr rechnet das Kollegium mit weiteren 20 Anmeldungen. „Wir sind an der Belastungsgrenze“, sagt Paeprer.

Sarolta Szabo ist seit einem Jahr als Sprachmittlerin an der Schule, sie ist selbst Rumänin. In ihrem Unterricht wird nur im Notfall rumänisch gesprochen. Sieben Lerngruppen und die erste Klasse für Roma-Kinder betreut sie. In der Praxis übersetzt Szabo aber hauptsächlich Kulturen. Wenn Kinder wieder nicht in die Schule kommen, macht Szabo „Hausbesuche“, manchmal auch mit dem Jugendamt. „Sie ist unsere Brücke zu den Eltern“, sagt Paeprer. Szabo hat das Vertrauen der Eltern gewinnen können, die größtenteils ohne Geld, Bildung und Sprachkenntnisse nach Berlin gekommen sind und tiefes Misstrauen gegen staatliche Institutionen hegen. Jetzt ist sie deren Hauptansprechpartnerin in fast allen Belangen.

Auf der anderen Seite bringt Szabo dem Kollegium die Roma-Kultur näher. „Wir wussten anfangs nicht, warum die Eltern nie auf Briefe reagierten“, sagt Paeprer. Dann sprang Kulturvermittlerin Szabo ein: „Nur was mündlich vereinbart ist, gilt bei den Roma.“ Auf allen Seiten für Verständnis werben, das kostet Zeit und Kraft. Und dann ist da noch die Ungewissheit, ob sie im nächsten Sommer überhaupt wieder an der Schule arbeiten darf.

Der neue Statusbericht zeigt auch, dass es „die Roma“ nicht gibt. Nach Neukölln ziehen unterschiedliche Gruppen: In den Norden kommen Rumänen und Bulgaren, in die High-Deck-Siedlung Polen, in den Süden Neuköllns ziehen kinderreiche Familien aus Bosnien und Herzegowina. Während sich sich die Wohnsituation in der Harzer Straße inzwischen deutlich verbessert hat, gibt es in anderen Gebieten große Schwierigkeiten mit den Nachbarn. Oft leben die Familien in überbelegten Wohnungen, für die Vermieter pro Schlafplatz und in bar abkassieren.

Solche Konflikte tragen die Kinder auch in die Schulen. „Die Roma-Kinder stehen in der Rangordnung an letzter Stelle“, sagt Schulleiter Paeprer. „Zigeuner“ ist ein gängiges Schimpfwort. Die Pädagogen versuchen Vorurteile abzubauen, indem sie Roma, Türken und Araber an einen Tisch setzen. Kürzlich gab es einen Kochkurs, jetzt einen Schulzirkus. Doch die Pöbeleien zeigen, dass es noch vieler solcher Aktionen bedarf. „Sie wurden in Rumänien diskriminiert, sie werden in Neukölln diskriminiert“, sagt Szabo. In ihren Lerngruppen will sie Selbstvertrauen geben. „Ihr schafft das!“

Detlef Pawollek ist Leiter der Röntgen-Sekundarschule. Auch hier kommen Jugendliche ohne Sprachkenntnisse an. „Wir machen dann, was im Rahmen der Möglichkeiten liegt.“ Bis zum Abschluss schafften es die Schüler selten, weil sie den Rückstand kaum noch aufholen könnten. Außerdem würden Mädchen in Roma-Familien teilweise schon mit 14 schwanger. Pawollek wünscht sich ein Ende der „Integrationsflickschusterei“ und ein langfristiges Konzept. „Denn es gibt längst eine Ghettoisierung.“

Markus Langenstraß

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