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Brandenburg: Im Angesicht des Todfeindes

Prozess um Mordversuch bei den Hells Angels: Angeklagter Rockerboss könnte zum Kronzeugen der Staatsanwaltschaft werden

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Berlin/Altlandsberg - Einst waren sie Freunde, nannten sich Brüder, genossen beide Respekt in der Halbwelt. Nun sitzt Holger „Hocko“ B. vor Gericht. Bis 2008 war er Präsident der Hells Angels im Osten Berlins und soll seinem Nachfolger André S. einen Auftragsmörder geschickt haben. S. überlebte so knapp, wie man sieben Schüsse in den Oberkörper überleben kann. An diesem Donnerstag soll S. aussagen.Bei ihrem Wiedersehen werden sie durch schusssicheren Scheiben getrennt sein.

Und doch ist es André S., der Hocko fürchten muss – nicht umgekehrt –, auch wenn Hocko in Untersuchungshaft sitzt. Denn der gefallene Altrocker redete mit der Polizei. Unter Hells Angels gilt das als Hochverrat. Schon vor einigen Wochen führten wohl seine Aussagen zu einer Razzia. Ein Einsatzkommando hatte Wohnungen und Kneipen von Hockos früheren Brüdern gestürmt, die Beamten suchten Waffen. Staatsanwaltschaft und Verteidiger äußern sich dazu nicht, szeneintern heißt es: Hocko habe sich zu Michael B. geäußert. Der 33 Jahre alte Rocker wurde 2009 erschossen, B. hatte die Angels wohl zugunsten der konkurrierenden Bandidos verlassen.

Nach 20 Jahren im Milieu hat Hocko viel zu erzählen. Wenn es stimmt, was in Justizkreisen erzählt wird, könnte er Kronzeuge werden. Dazu müsste er zur Aufklärung schwerer Taten wie dem Tod von Michael B. 2009 beitragen. Dann könnte seine eigene Strafe auch im Falle einer Verurteilung wegen Mordes auf bis zu zehn Jahre reduziert werden. Schon hat Hocko freimütig eingeräumt, er habe S. bestrafen wollen, aber Schüsse seien nicht geplant gewesen. Der für die Tat bezahlte und in die Ukraine geflohene Oleg C. habe eigenmächtig gehandelt.

Meist ist André S. von Männern umgeben, die so breit sind wie er selbst. Doch am frühen Morgen jenes 10. Juni 2012 ist er allein, als er vor seiner Kneipe in Berlin-Hohenschönhausen sein Motorrad besteigt. Oleg C. wartet schon auf ihn, die Schüsse treffen Leber, Wirbelsäule, fast das Herz. Nur dank „seiner Geliermasse“, wie ein Fahnder sagt, überlebt André S., bis der Notarzt kommt. Wer S. und Hocko sieht, dem wird deutlich, aus welchem Stoff man bei den Angels ist: breites Kreuz, mächtige Pranken, mehr als 100 Kilo Kampfgewicht.

Doch S. ist auch immer noch einer der wichtigsten Rocker des Landes, lädt er nach Berlin, kommen Biker aus ganz Norddeutschland. Hocko, der früher gern über Boote sprach, hat mit 52 Jahren alles verloren. Frau und Kind sind weg. Und selbst wenn er frei kommt, bleibt er ein Frührentner auf der Flucht.

Dass André S. das Schweigegebot bricht, ist unwahrscheinlich. Es ist schon der zweite Anschlag, den er überlebt: Im Juni 2009 werden er und seine Begleiter von einem anderen Wagen gerammt, jemand sticht S. ein Messer in den Rücken. Er telefoniert einen Angel herbei, lässt sich in eine Klinik fahren, die Klinge des Messers steckt da noch. Was er der Polizei sagt? Nichts. Und auch nach den Schüssen 2012 schweigt er. Seine Frau entbindet die Ärzte der Charité, in der S. behandelt wird, nicht von der Schweigepflicht. Erst ein Richter setzt durch, dass die Polizei die Krankenakte lesen kann.

Auch Hocko überlebte einen schweren Angriff, für den er S. verantwortlich macht und weswegen er sich mithilfe von Oleg C. habe rächen wollen. Hocko wird 2011 vor seinem Haus in Altlandsberg (Märkisch-Oderland).

bei Strausberg niedergestochen. Nicht bezahlte Schulden und Willkürherrschaft sollen ihn selbst bei den Angels-Bossen in den USA zur Persona non grata gemacht haben. Als Hocko 2008 abgesetzt wird, reisen Angels aus Nordamerika nach Berlin. Während er sich in Italien sonnt, holen die Männer die Insignien der Bruderschaft aus seiner Wohnung: Wer rausfliegt, muss die Lederwesten samt Patches, den Aufnähern in den Clubfarben abgeben.

Für einige kommt der tiefe Fall des Holger B. spät. „Der war zu laut, zu herrisch, zu größenwahnsinnig“, sagt ein Kenner. Doch lange habe es in Berlin niemanden gegeben, der ihm die Meinung gesagt hätte. Die eigenen Brüder hielt Hocko an der kurzen Leine, so wie Bruno, seinen Kampfhund. Konkurrierende Rocker waren noch nicht so weit, sich mit den Angels anzulegen. Die Polizei musste Hocko nicht fürchten, niemand wagte, ihn zu denunzieren.

Verlorene Bodenhaftung passt gut zum aktuellen Fall. Ausgerechnet Hocko soll am Telefon über das Attentat gesprochen haben – ganz so, als sei Handyüberwachung unbekannt. Hannes Heine

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