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Brandenburg: Im Trabi ging“s nach drüben

Platzeck zum Mauerfall am 9. November 1989: Neue Verfassung hätte Ostdeutschen „anderes Selbstwertgefühl“ gegeben

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Platzeck zum Mauerfall am 9. November 1989: Neue Verfassung hätte Ostdeutschen „anderes Selbstwertgefühl“ gegeben Potsdam - Am 4. November findet in Potsdam die erste Großdemonstration in der Wendezeit statt, zehntausende Menschen versammeln sich und ziehen anschließend durch die Stadt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sei klar gewesen, „in der DDR bleibt nichts mehr, wie es war“, sagt der heutige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) rückblickend. Er ist damals Mitglied der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft Umwelt und Stadtgestaltung (Argus). Bereits seit Frühjahr 1988 betreiben Aktivisten unter Beobachtung der Stasi die Gründung einer Bürgerinitiative, die sich zunächst nur um die Wiederherstellung der überwucherten Belvedere-Ruine auf dem Pfingstberg kümmern will, sich später aber auch politisch agiert. Vieles habe Anfang November auf die Verabschiedung eines neuen Reisegesetzes hingedeutet, so dass die Öffnung der Grenzen am 9. November für ihn „nicht mehr völlig“ überraschend gekommen sei, erinnert sich Platzeck. Er erzählt, dass ihn die Nachricht von der Maueröffnung mitten in einer Sitzung für eine geplante Umweltkundgebung erreicht habe. Die Teilnehmer seien dann zur Glienicker Brücke geeilt. Dort sei ihnen aber mitgeteilt worden, die Grenze werde noch nicht geöffnet. Erst am nächsten Tag ist es soweit. Im Trabant fährt der heute 50-Jährige nach West-Berlin, wo sich damals „Deutsche noch vorurteilsfrei in die Arme gefallen sind“. Am Potsdam-Berliner-Übergang noch gestoppt, macht Matthias Platzeck schnell politische Karriere: Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett von Hans Modrow, parteiloser Volkskammerabgeordneter für die Grüne Partei der DDR, Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90 im Landtag Brandenburg, Minister für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung in Brandenburg, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam, Regierungschef. 1995 tritt Platzeck in die SPD ein. Er bedauert nach wie vor, dass keine gesamtdeutsche Verfassung erarbeitet worden sei, um Erfahrungen der Ostdeutschen zu berücksichtigen. Dann hätten viele Menschen aus der früheren DDR heute ein „anderes Selbstwertgefühl“. Nicht nur in Potsdam mit Argus, auch in der Brandenburger Provinz kündigt sich der Aufbruch in den Monaten vor dem Mauerfall an. Am 9. und 10. September 1989 gründet sich im Haus des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann in Grünheide südöstlich von Berlin das „Neue Forum“. Genau einen Monat vor der Potsdamer Großveranstaltung - am 4. Oktober - stellt sich die Oppositionsvereinigung in der Friedrichskirche in Babelsberg vor. Am 7. Oktober wird in Schwante bei Oranienburg die „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ ins Leben gerufen. Bemerkenswertes geschieht im Vorfeld der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 auch in Neuglobsow am Stechlinsee: Gegen die Kandidatenliste erheben sich Proteste. Zuerst werden sie in einer SED-Mitgliederversammlung laut. Das Missfallen zielt vor allem auf den angeblich korrupten Aspiranten für das Bürgermeisteramt. Die SED-Versammlung kippt die Liste, dann fällt sie noch in der Einwohnerversammlung durch, wie ein ehemaliges SED-Mitglied berichtet. Das neue Papier mit einem parteilosen Bürgermeister-Kandidaten erhält dann die Bestätigung der Nationalen Front. Ein früher Hauch von Auflehnung weht ebenfalls im benachbarten Himmelpfort. Die Einwohner haben „die Schnauze voll vom Mundhalten“. Einige Namen auf einer der ausgehängten Listen zur Kommunalwahl werden von anonymer Hand durchgestrichen. Die erste Einwohnerversammlung fordert einem Teilnehmer zufolge die SED-Bürgermeisterin und den Gemeinderat zum Rücktritt auf. Rufe nach Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden laut. Am Ende der Entwicklung ist die erste geheime Wahl eines Bürgermeisters in der DDR perfekt. Im Süden Brandenburgs, in Jüterbog, existiert seit 1984 der „Teekreis der evangelischen Jugendarbeit im Kirchenkreis Jüterbog“. Das Entstehen des Kreises ist eng mit dem Aufkommen der DDR-Friedens- und Umweltbewegungen Anfang der 80er Jahre verbunden. Ab Sommer 1989 bietet er Veranstaltungen zur Presse- und Meinungsfreiheit an. Eine kritisiche Einstellung zum Regierungssystem der DDR eint die Teekreis-Gruppe. Mitglieder werden daher von der Stasi bespitzelt. Am 9. November hat der Teekreis zu einem Treffen zur Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 in die örtliche Nikolaikirche geladen. Kurz nach 20.00 Uhr bricht bei den zirka 1000 Besuchern großer Jubel aus: Die Mauer in Berlin ist auf.

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