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Überlebt. Edgar Frischmann in Sachsenhausen.

© Michael Urban/ddp

Brandenburg: Knapp dem Tod entronnen

Edgar Frischmann überlebte den Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen 1945 nur durch Zufall / An diesem Wochenende wird der Befreiung der KZ gedacht

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Oranienburg - An jenen Vormittag im Mai 1945 kann sich Edgar Frischmann heute noch im Detail erinnern. „Das Wetter war so wie heute. Bewölkt und manchmal kam ein bisschen Sonne raus“, sagt er und schaut in den Himmel über Oranienburg. Um die 100 Kilometer hatte der damals 22-Jährige auf dem Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen in Richtung Norden hinter sich gebracht. Ausgemergelt von monatelanger Zwangsarbeit in den Heinkel Flugzeugwerken Oranienburg und seiner letzten Kräfte beraubt, brach Frischmann zusammen. „Ich war mir in dem Moment sicher, dass ich sterbe. Die SS hat ja sofort jeden erschossen, der zurückblieb.“ Am 21. April 1945 hatte die SS mit der Räumung des KZ Sachsenhausen begonnen. 33 000 von 35 000 Häftlingen, darunter Frauen und Kinder, wurden in Richtung Nordwesten in Marsch gesetzt. In jenen Minuten, in denen Frischmann bei dem Todesmarsch sein Leben aufgegeben hatte, kam ihm ein Zufall zur Hilfe. „Plötzlich hat der Kommandant geschrien und die Soldaten mussten vor dem Zug Aufstellung nehmen. Die hatten panische Angst vor den Russen und wollten schnell weg.“ Den völlig erschöpften und auf 35 Kilogramm abgemagerten Frischmann ließen die SS-Schergen an jenem Vormittag einfach am Wegrand liegen. Einen Tag später wurde er von russischen Soldaten entdeckt. „Zuerst wollten die nur wissen, wo die SS ist. Dann brachten sie mich in ein Hospital bei Wittstock“, sagt Frischmann.

1922 in Wien geboren, war der Sohn einer evangelisch-jüdischen Familie 1943 in Budapest von den Nationalsozialisten verhaftet worden. In einem Arbeitslager in Ungarn zunächst inhaftiert, war er 1944 gemeinsam mit rund 5000 ungarischen Juden nach Sachsenhausen deportiert worden und musste bei Heinkel Zwangsarbeit leisten.

Das grauenvollste an jener Zeit in Sachsenhausen sei die ständige Todesangst gewesen, sagt Frischmann. „Jede Minute, jede Sekunde hätte man sterben können. Es wurden ja immerzu Menschen erschossen, ohne dass jemand wusste, warum.“ Hinzu kam der unerträgliche Hunger der Gefangenen, die bis zu zwölf Stunden täglich härteste Arbeit verrichten mussten. „Wir aßen sogar Gras, obwohl wir wussten, dass das keine Kalorien hat.“ Allein die Tatsache, dass Frischmann erst im Oktober 1944 nach Deutschland kam, ließ ihn offenbar überleben. „Die Rationen waren so ausgelegt, dass es für einen Menschen ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahr gereicht hätte. Ich hatte aber noch genügend Kraft, das hat mich gerettet.“ Nach dem Einmarsch der Roten Armee und seiner Entlassung aus dem Hospital trat Frischmann im Juni 1945 den langen Weg zurück in seine Heimat an – zunächst mit drei anderen Kameraden von der Prignitz mit einer Pferdekutsche nach Berlin. „Dem Pferd hatten wir einen Strohhut aufgesetzt. Das fanden wir sehr lustig“, erinnert er sich. Aus der zerstörten Hauptstadt, wo den Dreien das Pferd abgenommen wurde, gelangte Frischmann mit einem Güterwaggon zurück nach Budapest.

In seiner ungarischen Heimat hat Frischmann die Erlebnisse in Deutschland schnell hinter sich gelassen. Er wurde Sekretär bei einer antifaschistischen Organisation, später Staatsanwalt und schließlich Chef einer Behörde. „Ich hatte Glück, die Geschichte hat mich hochgeworfen“, sagt Frischmann, der nach 65 Jahren seine Muttersprache Deutsch fast verlernt hat. Dennoch kommt Frischmann, seit er pensioniert ist, fast jährlich nach Sachsenhausen.

An diesem Wochenende wird in Sachsenhausen und Ravensbrück der 65. Jahrestag der Befreiung der KZ begangen. In der Gedenkstätte Sachsenhausen finden heute zahlreiche Zeitzeugengespräche statt. Entlang der Lagerstraße wird die Ausstellung „Das kann man gar nicht begreifen, dass man plötzlich frei ist“ eröffnet. Einer der Höhepunkte des Veranstaltungsprogramms in der Gedenkstätte Ravensbrück ist die Aufführung der Operette „Le Verfügbar aux Enfers“ um 15 Uhr. Das Pariser Théâtre du Châtelet zeigt das Werk von Germaine Tillion, die von 1943 bis 1945 im KZ Ravensbrück inhaftiert war. Am Sonntag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ravensbrück erwartet, wo sie um 10 Uhr eine Rede halten will.

Frischmann will in diesem Jahr auch erstmals die Außenstelle des Lagers in Lieberose besuchen. Er sagt: „Dort soll ein Massengrab mit 700 ungarischen Juden sein. Die hatten weniger Glück als ich.“ Michael Klug

Michael Klug

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