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Statistikfragen. Von wegen Volkszählung – bei Kommunen über 10 000 Einwohner wurde am Ende auch nur noch geschätzt. Inzwischen beschäftigt das Thema Juristen.

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Zensus 2011: Kommunen im Griff der Statistik

Die Zuweisungen von Bund und Land an Städte und Gemeinde errechnen sich nach der Zahl der Einwohner. Die Gemeinde Schwerin klagt deshalb erneut. Und Potsdam geht gegen den Zensus 2011 vor.

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Schwerin/Berlin - Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast – das Bonmot, das Winston Churchill zugeschrieben wird, ist ein geflügeltes Wort beim Argumentieren mit veröffentlichter Statistik. Aber was kommt nach dem Misstrauen? Ein Korrekturanspruch, so erklärte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) am gestrigen Mittwoch, gibt es für die jährlich errechneten Bevölkerungsstatistiken jedenfalls nicht.

Geklagt hatte die Gemeinde Schwerin im Landkreis Dahme-Spreewald, die auf diesem Weg rund 120 000 Euro pro Jahr an zusätzlichen Schlüsselzuweisungen erhalten wollte. Auswirkungen hat der Richterspruch auch für alle anderen Kommunen, darunter auch die Landeshauptstadt Potsdam. Für sie gibt es – wenn das OVG-Urteil Bestand hat – nur selten die Möglichkeit, statistische Einwohner-Berechnungen anzugreifen, die Grundlage sind für rund 50 Bundes- und Landesgesetze. Nur im Falle einer Volkszählung – die nächste ist im Jahr 2021 – sind die Bescheide vor Gericht überprüfbar.

Somit hat es sich aus Potsdamer Sicht letztlich als gute Entscheidung erwiesen, die Ergebnisse der Volkszählung 2011 vor Gericht anzufechten – sonst wäre es in den nächsten zehn Jahren nicht mehr möglich gewesen. Entscheidend für sprudelnde Schlüsselzuweisungen der ständig wachsenden Stadt in den Jahren bis 2021 wäre ein hoher Ausgangswert an Einwohnern. Doch nach Ansicht Potsdams – aber auch anderer Kommunen wie Eisenhüttenstadt, Eberswalde, Rüdersdorf, Strausberg, Fürstenwalde, Erkner, Wandlitz Oranienburg, Oberkrämer, Angermünde, Brieselang, Neuruppin, Schönwalde-Glien, Schwedt, Zehdenick und Zossen, Guben und Finsterwalde – sind die Einwohnerzahlen zu gering angesetzt worden. Deshalb wollen sie die statistischen Festlegungen überprüfen lassen. Besonders Potsdam wächst ständig schneller als die Prognosen der Statistiker vorhersagen. Die Klagen bei den Verwaltungsgerichten liegen aber derzeit auf Eis, weil man auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wartet. Die statistisch festgestellten Einwohnerzahlen sind Grundlage für Schlüsselzuweisungen, eine der wichtigsten Einnahmequellen der Kommunen.

Grund für die Verzögerung sind dabei zwei Normenkontrollanträge der Stadtstaaten Berlin und Hamburg beim Bundesverfassungsgericht, die sich gegen die unveröffentlichte Methodik und die fehlende gesetzliche Regelung wenden. Während in Kommunen unter 10 000 Einwohnern tatsächlich gezählt wurde, wurde die Einwohnerzahl in allen größeren Gemeinden aufgrund von Stichproben errechnet. Das führte bundesweit vor allem bei größeren Kommunen zu Rückgängen in der Einwohnerzahl, die sich auch finanziell niederschlagen. Ein Entscheidungstermin sei „nicht absehbar“, teilte das Bundesverfassungsgericht mit.

Das brandenburgische Schwerin ist zwar ein Gewinner der letzten Volkszählung, hatte aber viele Jahre lang Probleme mit dem Statistikamt. Regelmäßig zogen statistisch ermittelt mehr Personen weg, als sich aus dem örtlichen Melderegister ergab. Als Grund wurde allgemein vermutet, dass beim Wegzug aus der gleichnamigen Großstadt Schwerin beide Orte verwechselt worden sind. So wurden für das Schwerin in Brandenburg viele Jahre zwischen 120 und 170 Einwohner pro Jahr zu wenig zugrundegelegt. In einer kleinen Gemeinde fällt so ein Fehler auf. Hier könne man Volkszählung noch so machen, dass man alle antreten lässt und sie zählt, sagte Schwerins ehrenamtlicher Bürgermeister Heinz Gode vor dem OVG.

Einen Anspruch, die Einwohnerzahl richtig zu ermitteln, sahen die Verwaltungsrichter aber nicht. Nachdem das Verwaltungsgericht Cottbus 2013 die Klage abgewiesen hatte, verneinte auch das OVG am Mittwoch einen solchen Anspruch auf Korrektur. Im Bevölkerungsstatistik-Gesetz sei dieser nicht geregelt. Auch aus der grundgesetzlich geschützten kommunalen Selbstverwaltung wollte das OVG ihn nicht herleiten. Die Richter sahen stattdessen eine bewusste Wertung des Gesetzgebers. Der wolle „gar nicht wissen, wie viele Einwohner dort leben“, formulierte während der Verhandlung einer der Richter, sondern wolle die statistisch ermittelten Zahlen zugrundelegen.

Kurios: Das zuständige Statistikamt korrigierte die Zahlen für Schwerin jährlich selbst nach oben, nachdem sich die Gemeinde beschwert hatte. So bekam die Gemeinde im Jahr 2005 41 Einwohner statistisch gutgeschrieben, im Jahr 2006 noch einmal 41, für 2008 kamen 62 dazu, und 2009 noch einmal 32. Dadurch wurde die Zahl der fälschlicherweise für den Ort erfassten Wegzüge teilweise ausgeglichen. Wie die statistischen Einwohner generiert wurden, blieb in der Verhandlung unklar. Dass dies rechtlich in Ordnung war, zweifelten die Richter allerdings an.

Ohne Bemühungen der Gemeinde und die daraufhin von den Statistikern rechnerisch erzeugten Einwohner hätte Schwerin schnell einen kritischen Status erreichen können. „Wenn wir tatenlos zugesehen hätten, hätte es Schwerin statistisch nicht mehr gegeben“, sagte Schwerins Rechtsanwalt Ingmar Benger. Es wäre ein Ort geworden „mit Null Einwohnern und Null Zuweisungen“ – obwohl die Gemeinde natürlich ihre Pflichtaufgaben für die tatsächlich vorhandenen Einwohner weiter hätte erfüllen müssen.

Vor dem Verwaltungsgericht Cottbus klagt die Gemeinde direkt auf höhere Schlüsselzuweisungen für 2009 bis 2011. Dort hält man die Zahlen des Statistikamtes für sakrosankt – wenn man diese nun gar nicht anfechten könnte, befinde man sich in einer „Sackgasse“.

Die OVG-Richter ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken. Möglicherweise sei das Finanzausgleichsgesetz ein Ansatzpunkt, um an das benötigte Geld zu kommen – im Falle einer besonderen Härte. Es sei auch nicht erkennbar, wie die Korrektur vorgenommen werden sollte, sagte der Vorsitzende Richter Boris Wolnicki in der kurzen mündlichen Urteilsbegründung. Die Revision ließ der Senat nicht zu, weil nach aktueller Fassung des Bevölkerungs-Statistik-Gesetzes die falsche Zuordnung der beiden Schwerins nicht mehr möglich sei, das Gesetz sei „ein „Phänomen der Geschichte“. Ob Schwerin dennoch die Revision zum Bundesverwaltungsgericht beantragt, will es erst nach Studie der Urteilsgründe entscheiden.

Vom Ingmar Höfgen

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