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Von Ferda Atamann und Alexander Fröhlich: Kulturkampf im Kurort Lindow

Einwohner glauben nicht an fremdenfeindlichen Übergriff. Behörden planen Anti-Aggressionstraining

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Lindow / Berlin – Der Tatort ist ein typischer Discounter, ein Flachbau, der so gar nicht in das Städtchen mit den sanierten Häusern im frühklassizistischen Stil passt. Es ist der einzige Supermarkt in Lindow, Einheimische kaufen hier ein, aber auch Urlauber, die an einem der drei Seen Ruhe suchen. Für die 3200 Bewohner der Stadt ist der Tourismus unabkömmlich. Auch deshalb sind die Politiker und Ermittlungsbehörden alarmiert, nachdem sich am Dienstagabend Fußballer von Türkiyemspor aus Berlin und Jugendliche aus dem Ort auf dem Parkplatz eine Schlägerei mit Knüppeln, Aluminiumstangen und Baseballschlägern geliefert hatten.

Die Supermarkt-Angestellten dürfen zu all dem nichts sagen – „Anweisung von oben“. Auch die Kunden halten sich zurück. Der Streit zwischen Berlinern und Lindowern habe sich „aufgeschaukelt“.

In Lindow erzählt man sich, die Fußballer hätten am Dienstag auf ihrem Weg von der Landessportschule zum Supermarkt einen Partypavillon auseinandergenommen und sich mit den Aluminiumstangen bewaffnet. Die Staatsanwaltschaft weiß davon nichts, ermittelt aber wegen „schwerem Landfriedensbruch“ gegen die Jugendlichen von Türkiyemspor und aus Lindow, gegen zwei Ortsansässige zudem wegen Volksverhetzung und verfassungswidriger Zeichen.

Noch ist unklar, ob es sich bei dem Zusammenprall der Jugendgruppen auf dem Parkplatz um einen fremdenfeindlichen Übergriff durch Neonazis handelt – wie von den 15-jährigen Berlinern behauptet wird – oder um eine verabredete Schlägerei. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Neuruppin deuten darauf hin, dass es „sicherlich auf beiden Seiten Provokationen“ gegeben habe.

Der Fall ist verworren: Am Montag gab es an der Discounter-Kasse offenbar eine Streiterei, woraufhin ein 20-Jähriger aus der Stadt einen Berliner als „Kanake“ und „Dönerfresser“ beschimpft und ein anderer „Sieg Heil“ gerufen haben soll, der den Arm zum Hitlergruß erhob. Bürgermeister Wolfgang Schwericke (SPD), der zufällig dabei war, habe nur das Gerangel bemerkt. Die Spieler hätten ihm gesagt, sie werden bedroht. „Ich habe sie ein Stück weit zur Sportschule begleitet“, berichtet er. Sie seien „sehr geladen“ gewesen und hätten Passanten „deutsche Nutten“ und „deutsche Schweine“ genannt. Der Bürgermeister habe sie auch rufen hören, „wir kommen wieder und machen euch platt“. Auch wenn die Lindower Jugendlichen zu dem Zeitpunkt nicht mehr auf der Straße waren, schließt die Staatsanwaltschaft aus dieser Ankündigung auf eine Verabredung für Dienstagabend. „Wir wissen, dass es auf beiden Seiten Gewaltpotenzial gab“, sagt Amtsdirektor Danilo Lieske. Die Schuldfrage will er den Ermittlern überlassen, sich aber die örtlichen Jugendlichen bald zur Brust nehmen. Man werde die Jugendarbeit verstärken, auch Anti-Aggressionstrainings seien auf beiden Seiten geplant. „Wir wussten schnell, wer dabei war“, sagt Lieske und spricht von „Defiziten im Menschenbild“ der Jugendlichen und „im Umgang mit Fremden“.

Dieses „Defizit“ hat auch Cüneyt Ildeniz, Trainer beim Sportverein „SV Nord Wedding“, in Lindow zu spüren bekommen, als er 2007 mit einer B-Jugend hier im Trainingslager war. „An einem unserer Bungalows stand ,Scheiss Türken’ an die Wand geschrieben“, berichtet er, wobei „ss“ mit Runen geschrieben war. Der Trainer habe das nach mehreren Tagen selbst wegwischen müssen. Wer es geschrieben hat, habe er nie erfahren.

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