
© dpa/Oliver Gierens
Leben im Sperrgebiet: So erlebte Lenzen die DDR-Zeit
Das Elbufer abgezäunt, die Einfahrt mit einem Schlagbaum gesperrt: Die Stadt Lenzen im Nordwesten Brandenburgs war von der DDR-Grenze besonders hart betroffen. Die Folgen sind bis heute zu spüren.
Stand:
Walter Jahnke durfte zu DDR-Zeiten sehen, was den meisten seiner Mitbewohner verwehrt blieb. Als Mitarbeiter in der Wasserwirtschaft, unter anderem zuständig für den Hochwasserschutz, hatte er den freien Blick auf die Elbe bei Lenzen. Denn Jahnke konnte sich aus beruflichen Gründen ab und an hinter den Sperranlagen bewegen. Für alle anderen Bewohner blieb die Elbe bis zum Mauerfall im November 1989 so nah und doch unendlich fern.
Zutritt nur mit Sondergenehmigung
Die Stadt im heutigen Landkreis Prignitz ganz im Nordwesten Brandenburgs war während der deutschen Teilung jahrzehntelang ein Kuriosum: Die Elbe ist hier vergleichsweise schmal – und am anderen Ufer, das zu Niedersachsen gehört, begann schon der Westen. Aufgrund dieser besonderen Grenzlage war Lenzen bis 1972 Sperrgebiet. Wer hineinwollte, brauchte eine Sondergenehmigung und wurde am Schlagbaum kontrolliert. Anwohner hatten einen speziellen Stempel im Ausweis. Erst ab Herbst 1972 entspannte sich die Situation etwas, als Lenzen aus dem Sperrgebiet herausgenommen wurde. Trotzdem fielen die Kontrollen nie ganz weg.
Unsere Brandenburg-Videos jetzt anschauen
Walter Jahnke wurde 1951 in diese Situation hineingeboren. Hier wuchs er auf, hat bis auf die Studienzeit fast sein ganzes Leben in der Stadt verbracht. „Es gab ja nichts anderes. Man war das von Kind auf so gewöhnt und hat das so mitgemacht“, erinnert er sich. „Wenn man nicht dienstlich an der Elbe zu tun hatte, hat man sie nie gesehen.“ Bei Hochwassern schickten die Behörden Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA). „Die mussten sogar mit der Flinte im Kreuz Sandsäcke legen“, erzählt Jahnke.

© dpa/Oliver Gierens
Ein Stück Grenzzaun als Kompostbehälter
Durchgreifend geändert hat sich die Situation erst mit der Grenzöffnung. Nach dem Mauerfall 1989 seien die Zäune am Elbufer ziemlich schnell abgebaut worden, erinnert sich Jahnke. „Für diese Menschen war es so, als würde sich plötzlich die Welt öffnen.“ Bereits im Dezember verkehrte wieder eine Fähre von Lenzen ins gegenüberliegende Pevestorf.
Jeder, der wollte, habe sich damals ein Stück Zaun mitnehmen können. Auch Walter Jahnke hat ihn noch im Garten stehen: Er hat das Zaunstück rund gemacht und verwendet es als Kompostbehälter. „Das war gutes Material, der steht heute noch.“
30 Jahre später hat sich vieles in der Prignitzer Kleinstadt verändert. Zahlreiche alte Häuser wurden saniert, das Elbufer ist ein beliebter Radweg für Touristen geworden. In der Burg Lenzen ist der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) eingezogen. Er betreut Projekte zur Renaturierung der Elbauen und eine der größten Deichrückverlagerungen in Deutschland. Lenzen liegt zudem am „Grünen Band“, einem Grüngürtel entlang des früheren Todesstreifens.
Die Region bleibt abgehängt
Dennoch macht die Stadt an vielen Stellen den Eindruck, dass sie den Dornröschenschlaf der DDR-Zeit noch nicht ganz überwunden hat. Nach wie vor sind viele Häuser im historischen Stadtkern unsaniert oder stehen leer, auch Geschäfte oder Restaurants gibt es nur wenige. „Von Natur und Tourismus alleine kann die Stadt nicht leben“, macht Jahnke deutlich. Seit einem Jahr ist er ehrenamtlicher Bürgermeister von Lenzen, kämpft seitdem mit den Problemen der Stadt.

© dpa/Oliver Gierens
So gehe etwa die Energiewende an der Stadt völlig vorbei. Während manche Nachbarkommune riesige Windparks geschaffen hat, können im Naturschutzgebiet rund um Lenzen keine Windräder aufgestellt werden. Auch große Industrie gibt es in der Stadt nicht.
Unsere Brandenburg-Videos jetzt anschauen
Die Grenze ist zwar weg, aber die Grenzlage ist geblieben: Die Stadt liegt am äußersten nordwestlichen Zipfel Brandenburgs, kurz dahinter beginnt Mecklenburg-Vorpommern. Am anderen Elbufer liegt das ebenfalls dünn besiedelte Wendland in Niedersachsen, das allenfalls durch das Atommüll-Zwischenlager in Gorleben bekannt ist. „Man müsste diese Region ein wenig anders behandeln als eine, die rund um Berlin liegt“, meint der Bürgermeister. Auch für junge Leute gebe es wenige Angebote.
Fünf Stunden bis zur Zwangsräumung
Doch die Situation in der Stadt hat noch einen anderen Grund: Zweimal erlebte Lenzen zu DDR-Zeiten einen erzwungenen Bevölkerungsschwund. 1952 und nach dem Mauerbau 1961 wurden zahlreiche Bürger, darunter Handwerker, Bauern und Geschäftsleute, zwangsausgesiedelt. Ernst-Otto Schönemann hat diese Zeit miterlebt.
Wir sind in ein Gebäude gekommen, wo zwei Jahre lang Getreide gelagert hatte – voller Ratten, kein Wasser, keine Toilette, nichts.
Ernst-Otto Schönemann, er wurde mit seiner Familie 1952 zwangsausgesiedelt.
Seine Eltern hatten einen Klempnerbetrieb, den sein Urgroßvater 1862 gegründet hatte – ein Traditionsbetrieb mitten in der Stadt. Am 3. Oktober klingelte es morgens um sieben Uhr an der Tür. Innerhalb von fünf Stunden mussten sie ihr angestammtes Haus in Lenzen verlassen. „Ich war damals 20 Jahre alt und hatte zum Glück schon meinen Studienplatz in Dresden“, erinnert sich Schönemann. „Für meine Eltern war es ganz schlimm, für mich nicht ganz so.“ Die Firma, die damals 99 Jahre bestand, wurde innerhalb weniger Stunden dichtgemacht.
Die Eltern landeten rund 15 Kilometer von Schwerin entfernt in einem kleinen Dorf, das aus fünf Bauernhäusern bestand. „Wir sind in ein Gebäude gekommen, wo zwei Jahre lang Getreide gelagert hatte – voller Ratten, kein Wasser, keine Toilette, nichts“, erzählt Schönemann. Für die Eltern sei es eine unerträgliche Situation gewesen. Erst nach ein paar Wochen fanden sie eine richtige Wohnung.
1500 Euro Entschädigung: „Ein Witz“
Der Vater konnte schließlich wieder als Elektromeister arbeiten, jedoch beruflich nicht mehr an frühere Zeiten anknüpfen. Nach Lenzen kehrte die Familie nicht mehr zurück, auch das Haus bekamen sie nach der Zwangsaussiedlung nicht wieder. Mittlerweile steht das Gebäude mitten in der Stadt leer.
Auch eine Entschädigung hat Schönemann bis heute nicht erhalten. 1500 Euro seien ihm angeboten worden. „Das ist ein Witz“, sagt der 83-Jährige schmunzelnd. Stattdessen wünsche er sich, dass das Unrecht vonseiten der Politik öffentlich anerkannt werde. Schließlich wirken sich dessen Folgen bis heute auf die Kleinstadt an der Elbe aus. (dpa)
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: