zum Hauptinhalt

Brandenburg: „Lieber Herr Wichmann, entspannen Sie!“ An manchen Grundschulen in Brandenburg lernen Kinder so schreiben: Nach Klang, Orthografie egal.

Im Landtag stritten darüber der CDU-Abgeordnete Henryk Wichmann und die Linke Gerrit Große

Stand:

Couragiert, mit Verve und Herzblut: Selten geht es in Brandenburgs Landtag so zur Sache wie in dieser Woche, als über Bildungspolitik gestritten wurde – nämlich über die an Grundschulen im Lande praktizierte umstrittene Lehrmethode, bei Erst- und Zweitklässlern Rechtschreibfehler beim Schreiben nicht zu korrigieren, um den Kindern nicht die Lernfreude zu verderben. Wir dokumentieren Auszüge aus der Debatte, nämlich den persönlichen Schlagabtausch zwischen dem CDU-Abgeordneten Henryk Wichmann, bekannt auch aus zwei Filmen von Andreas Dresen, und der Linke-Bildungspolitikerin Gerrit Große.thm

Wichmann erhält das Wort.

Zwischenruf aus der SPD: Kamera läuft!

Wichmann (CDU):

Lieber Mike Bischoff, die Bemerkung „Kamera läuft“ verbitte ich mir. Denn wir debattieren über dieses Thema nicht, weil die Kamera läuft, sondern weil es einen erheblichen Anteil von Schulen in unserem Land gibt, die unsere Kinder in Rechtschreibung nach einer Methode unterrichten, deren Verbot die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben fordert, weil ein Großteil der Kinder dadurch nie schreiben lernt.

(Beifall CDU)

Jetzt komme ich zu meiner Vorrednerin. Liebe Frau Theiss, als wir unsere älteste Tochter in eine staatliche Grundschule eingeschult haben, haben auch wir gedacht, dass sie an dieser Schule in den ersten zwei, drei Schuljahren auf ganz normale Art und Weise lesen und scDIE LINKE]hreiben lernt. Wenn ich Ihnen jetzt sage, was wir an dieser Schule erlebt haben: Zwei Jahre lang sollten die Kinder ohne zugelassenes Lehrbuch im Fach Deutsch, ohne eine Fibel lesen und schreiben lernen; zwei Jahre lang konnten sie schreiben, wie sie wollten; die Fehler wurden nie als solche kenntlich gemacht und auch nicht vom Lehrer korrigiert; es wurden keine Diktate geschrieben und keine Noten vergeben. Zum allerersten Mal tauchte die Rechtschreibmisere in der Vergleichsarbeit in Klassenstufe 4 auf – da war für viele Kinder der Zug schon lange abgefahren.

(Beifall)

Deshalb ist eine Überprüfung dieser Methodik doch das Mindeste, und ich weiß gar nicht, wovor die Kollegen, die dagegen sind, eigentlich Angst haben. Wenn alles super ist und gut läuft, kann es doch kein Problem sein, dass wir die Schulen erfassen und genau hingucken, ob die Kinder bei der Methode „Lesen durch Schreiben“ genauso schnell und erfolgreich lesen und schreiben lernen wie gleichaltrige Kinder an den 80 oder 90 % der Schulen – hoffentlich sind es noch so viele in Brandenburg -, die den Kindern das Lesen und Schreiben mit der Fibel beibringen.

(Beifall CDU)

Das ist das Mindeste, was wir erwarten. Wir wollen genau wissen, wie unsere Kinder ihre Muttersprach erlernen. In einem Land, wo wir fast alles regulieren, überprüfen, evaluieren und überwachen, kann es doch nicht dem Selbstlauf überlassen sein, wie unsere Kinder lesen und schreiben lernen!

Für die Linke spricht Gerrit Große, die auch Vize-Präsidentin des Landtages ist und früher Lehrerin war:

Herr Präsident! Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, in welchem Film ich heute bin. Der Antrag ist, das merken wir, aus einer persönlichen Beunruhigung eines Vaters entstanden.

Zurufe von der CDU: Nein!

Er ist mit viel Wirbel begleitet worden. Er findet mediale Aufmerksamkeit. Natürlich fällt das auf einen fruchtbaren Boden, weil wir alle unzufrieden mit dem sind, was orthografisch an das Tageslicht kommt. Das ist die Wirtschaft. Das sind die Universitäten. Das ist auch in der abnehmenden Schule so. Natürlich sind Eltern immer unzufrieden, wenn sie die Zeitung aufschlagen. Nun sage ich Ihnen einmal Folgendes: Die Verfallserscheinungen der deutschen Sprache habe ich als Deutschlehrerin, seit ich seit 1976 im Schuldienst war, kennengelernt. In meiner ersten Dienstversammlung haben wir uns genau dazu überlegt: Was machen wir mit den Schülern, die alle nach der Fibel-Methode Deutsch gelernt haben? Wie bekommen wir das mit der Orthografie besser hin? Es gab dann einmal so etwas, was muttersprachliches Prinzip hieß: Danach wurden auch der Physiklehrer und der Mathelehrer verpflichtet, die Fehler anzustreichen. Glauben Sie, das hat geholfen? Je mehr Rot, desto weniger hatten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, an dieser Geschichte zu arbeiten.

(Beifall von den Linken)

Hier im Saal besteht so ein Misstrauen gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern! Ich sage Ihnen: Die Lehrerinnen und Lehrer, die den Anfangsunterricht in einer ersten und einer zweiten Jahrgangsstufe gestalten, machen das mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein und einem großen diagnostischen Geschick. Sie überlegen: Was geht wie mit welcher Methode mit den Kindern, die hier vor mir sitzen? ... Bezüglich des Schreibens müssen wir sehr viel eher hingucken. Wir haben im Bereich Kita eine ganze Menge zur Sensibilisierung von Sprache gemacht. Wir haben dafür richtig Geld angefasst. Die meisten Kinder, die fünf Jahre alt sind, bringen sich mit der Methode inzwischen ganz von selbst Schreiben bei. Wir haben nach diesem Ergebnis 2010 einen Mindestwortschatz festgelegt. Wir haben eine Kontingentstundentafel. Wir haben eine Stunde mehr reingegeben. Wir machen Leseförderung. Wir haben eine demokratisch verfasste Schule, in der Gremien über solche Dinge reden können.

(Beifall Die Linke und SPD)

Sie wollen jetzt mit dieser „Lehrer-Kontrollgeschichte“ ausschließen, dass diese eine Methode richtig ist. Von dieser CDU-Fraktion kommt plötzlich die „Einheitsschulkeule“, die uns immer vorgeworfen wird. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Die Lehrerin, der Lehrer ist die zentrale Figur, und sie braucht keine Vorschriften zu Methoden aus dem politischen Raum. Sie gehören einfach nicht hierhin. Fragen Sie einmal die Grundschullehrerinnen und -lehrer: Es gibt immer ein Methodengemisch.

Zwischenruf Wichmann: Schön wäre es!

Weiter Große: Die Landesregierung hat deshalb darauf nicht antworten können, weil Lehrerinnen und Lehrer neben der Methode „Lesen durch Schreiben“ die Fibel-Methode anwenden. Das ist sehr verantwortungsbewusst. Es gibt auch Lehrerinnen und Lehrer, die Methoden aus der Förderschulpädagogik anwenden, bei denen mit Gesten, zum Beispiel mit der Nase und dem Mund, ein Buchstabe artikuliert wird. Es gibt so viele unterschiedliche Methoden. Das Ziel bleibt das Gleiche. ... An Herrn Wichmann ganz persönlich möchte ich jetzt Folgendes sagen: Lesen Sie die Texte, die wunderbaren, phantasievollen Texte, die Ihre Kinder in der ersten und zweiten Klasse schreiben, und nehmen Sie sich diese wunderbaren phantasievollen ...

Zuruf von der CDU: Falsch geschriebenen Texte ...

Weiter Große: Na klar, falsch geschriebenen – Texte, die sie mit großer Freude produziert haben, bei denen sie Spaß am Schreiben hatten und wo kein Lehrer Hunderte rote Striche gesetzt hat nach dem Maßstab: Bei 30 Fehlern gibt es eine Sechs und bei 20 Fehlern gibt es auch noch eine Sechs. Lesen Sie diese Texte! Beobachten Sie und sprechen Sie mit Ihren Kindern! Sie werden sehen: Sie werden noch schreiben lernen, auch wenn sie in Lychen auf die Grundschule gehen, die bisher eine gute Arbeit mit ihren Kindern gemacht hat. Wie gesagt, heben Sie diese Texte auf, und in zehn Jahren reden wir noch einmal darüber.

Kurzintervention von Wichmann:

Liebe Gerrit Große, ich bin ein Stück weit entsetzt. Ich dachte, auch von Deinem beruflichen Hintergrund her, dass eine andere Sicht auf die Dinge da sein müsste. Dass ich mir die Briefe, die mir meine Tochter am Ende der vierten Klasse geschrieben hat, aufhebe und einrahme, da könnt Ihr sicher sein. Das ist wohl klar. Es ist aber nicht so, dass die Fehler, die sie macht, sich von ganz allein geben. Ich kann Ihnen auch sagen, warum nicht. Wir haben die Diagnostik der Kinderpsychologin schriftlich: Rechtschreibung, wie das Dehnungs-H, die Doppelkonsonanten, die Groß- und Kleinschreibung, wird nicht automatisiert, weil sie in der zweiten Klasse nie korrigiert wurden, weil mit einem Lehrbuch gearbeitet wurde, in dem kein einziger Text steht und das als Lehrbuch nicht zugelassen ist, weil Rechtschreibregeln gar nicht vermittelt werden, weil man meint, es sei heute nicht mehr so wichtig. All dies habe ich sogar von Lehrern schriftlich bekommen, die sagen, der Erfolg hänge nicht davon ab, ob die Kinder richtig schreiben lernen, viele Eltern würden auch falsch schreiben. Das habe ich schriftlich von der Klassenlehrerin meiner Tochter einer staatlichen Schule. Ich muss sagen: Das ist ungeheuerlich.

(Beifall CDU)

Gerrit Große, es wäre schön, wenn es ein Methodengemisch gäbe. Wir in Lychen haben aber kein Methodengemisch. Wir haben in beiden ersten Klassen die Methode „Lesen durch Schreiben“. Wir haben in beiden zweiten Klassen die Methode „Lesen durch Schreiben“. Dann kommen die Kinder in die dritte Klasse, erhalten zum ersten Mal ordentlichen Unterricht und zum ersten Mal Noten, schreiben zum ersten Mal ein Diktat und stehen bei allen auf Vier, weil sie es in den ersten beiden Jahren nicht gelernt haben. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang.

Landtagspräsident Fritsch:

Ich sehe schon, Sie möchten reagieren, Frau Große, Bitte!

Große: Lieber Henryk Wichmann, ich bitte Sie einfach: Entspannen Sie! In dieser 1. Klasse und in dieser 2. Klasse hat auch ein guter, ordentlicher Unterricht stattgefunden ...

Zwischenruf Wichmann: Nein!

Weiter Große: .... auch wenn es dort noch keine Noten gab, auch wenn da nicht die roten Striche unter die fehlenden Dehnungs-Hs gemacht wurden. In dieser 1. und 2. Klasse haben Lehrerinnen und Lehrer an der Lychener Grundschule – davon gehe ich aus – versucht, den Kindern Freude am Schreiben, an der Sprache, am Umgang mit Buchstaben, am Umgang mit Lauten, am Umgang mit Worten beizubringen. Schauen Sie sich die Freude an, die die Kinder in diesen ersten beiden Jahren entwickeln! Schauen Sie sich das in den Grundschulen in Ihren Wahlkreisen an! Sprechen Sie mit den Lehrerinnen und Lehrern, die diese unterschiedlichen Methoden anwenden! Wir alle sind durch eine DDR-sozialisierte Fibelschule gegangen, ....

Zwischenruf Wichmann: Eben!

Weiter Große: ... ich doch auch. Ich habe auch noch den Blick der Deutschlehrerin auf dieses und wundere mich. Bleiben Sie geduldig und begleiten Sie Ihre Kinder als Eltern positiv in diesen Prozess und verunsichern Sie nicht auch noch die Kinder, indem Sie diese Front gegen die Lehrerinnen aufmachen.

Nach weiteren Reden folgt die Abstimmung im Plenum. Der Antrag der CDU, die Schulen erfassen zu lassen, die die Schreibe-wie-es-klingt-Methode anwenden, wird vor allem mit rot-roter Mehrheit abgelehnt. Ebenfalls abgelehnt wird ein Antrag der Liberalen, die den Eltern Wahlfreiheit geben wollen, ob an Schulen diese Lehrtechnik eingesetzt wird. Selbst eine Überweisung in den Bildungsausschuss wird verhindert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })