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POSITION: Manfred Stolpe – eine Einordnung

Man sollte den Umbruch nicht auf den Umgang mit der Stasi reduzieren Von Martin Gorholt

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Wer die Gutachten der Enquete-Kommission des Landtages zur Aufarbeitung der Vergangenheit liest und die Debatten verfolgt, kann zum Schluss kommen, dass die Maßstäbe für gelungene oder nicht gelungene Aufarbeitung zum einen der Umgang mit ehemaligen Stasimitarbeitern und zum anderen die Einstellung ist, die man zu Manfred Stolpes Wirken in der DDR hat. Dabei wird von den Protagonisten dieser Sicht vermieden, historische Einordnungen vorzunehmen.

Als ich im Juni 1990 vom Parteivorstand nach Brandenburg geschickt wurde, um dort SPD-Geschäftsführer zu werden, ermunterten mich der damalige Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel und die damalige Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs, dass mit Manfred Stolpe ein Kandidat gefunden sei, der für Glaubwürdigkeit, Authentizität und Bürgernähe stünde, mit dem die Wahlen in Brandenburg zu gewinnen sein müssten. In der Tat hat sich Manfred Stolpe als Glücksfall für Brandenburg, aber auch für ganz Ostdeutschland herausgestellt, weil er einen großen Beitrag dazu geliefert hat, die Menschen in die Demokratie und Marktwirtschaft mitzunehmen, ihnen Selbstbewusstsein zu geben. Er war in den neunziger Jahren die ostdeutsche Identifikationsperson in der Politik. Es gab auch in der Brandenburger SPD den einen oder anderen, der bei der Kandidatenaufstellung Mitte 1990 zu bedenken gab, dass die Rolle der Kirche und damit auch die Rolle von Manfred Stolpe zu einer schwierigen Diskussion in den nächsten Jahren führen könnte. Die Stimmen waren nicht von entscheidendem Gewicht.

Das Wirken von Manfred Stolpe als Konsistorialpräsident ist einzuordnen in die europapolitische Lage und in die politischen Strategien, die sich daraus in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten. Wichtiger Markstein des „Kalten Krieges“ ist der Mauerbau vom 13. August 1961. Damit war den Menschen in der DDR klar, dass nur unter großen Risiken für Leib und Leben ein Verlassen ihres Staates noch möglich war. Insofern hieß es für die meisten, sich anzupassen und mitzumachen, andererseits im Alltag Eigensinn zu entwickeln in Nischen von Kultur, Freizeit oder kleineren Initiativen. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Walter Scheel ging ab Ende der sechziger Jahre von den selben Prämissen aus. Sie nahmen die DDR als kurzfristig nicht zu verhindernde Realität. Grenzänderungen und Veränderungen des Systems waren nicht in Sicht. Deshalb war es Ziel, in der hochgerüsteten Ost-West-Konfrontation durch Gespräche und Vereinbarungen den Frieden sicherer zu machen, das menschliche Leben in beiden deutschen Staaten zu erleichtern, Familienzusammenführungen zu erreichen, konkrete Dinge durchzusetzen, was zum Beispiel zum Freikauf von politischen Häftlingen führte. Mit der Schlussakte von Helsinki oder dem SED-SPD-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ gab es Grundlagen, auf die sich Kirchen oder Oppositionsgruppen beziehen konnten, um für Freiheitsrechte oder Reformfähigkeit zu streiten.

Die Kirche war die einzige bedeutende nicht-sozialistische Institution in der DDR. Wenn die Kirche schon nicht abzuschaffen war, so sollte ihr Einfluss maßgeblich zurückgedrängt werden. So wurde mit der Jugendweihe die Konfirmation zu einer Minderheitenfeier und das aktive Christsein in Schule und Beruf diskriminiert. In der Tat sank die Zahl der Kirchenmitglieder drastisch. Unter diesen Rahmenbedingungen hatte die Kirche ihre Rolle zu finden. Sie versuchte für sich Freiräume zu schaffen, um in einem offiziell atheistisch ausgerichteten Land weiter zu existieren, ihre Pfarrer und Mitarbeiter auszubilden und offen zu sein für jeden, der sich hier engagieren wollte. Gleichzeitig setzte sich die Kirche auch für andere ein, bemühte sich einen Schutz für Menschen zu bieten, die sich nicht in das DDR-System einordnen wollten.

Die Kirchenvertreter waren deshalb oft hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und einer Anpassung an die Spielregeln des Regimes, um möglichst viel Spielraum zu erhalten. Zu den Verzweifelten gehörte zum Beispiel der Pfarrer Oskar Brüsewitz, der 1976 den Freitod suchte. Dies war Anlass für kontroverse Diskussionen innerhalb der Kirche, ob die Leitung nicht zu diplomatisch mit der SED-Führung umginge. Aber wäre ein anderer Weg möglich gewesen und hätte er zu mehr Erfolg geführt? Um den Spielraum zu erhalten und sich gleichzeitig für Verfolgte einzusetzen, wurden von Teilen der Kirche und insbesondere auch von Manfred Stolpe alle Ebenen der Kommunikation und des Gesprächs gesucht, mit der Partei, dem Staates oder der Staatssicherheit. Alle drei hatten ihre eigenen Funktionen im System und eigene Einflusssphären. Solche Gespräche sind immer auch Gespräche auf Gegenseitigkeit, sie müssen für beide Seiten etwas bringen. Insofern war auch Manfred Stolpe immer in der schwierigen Situation abzuschätzen, welche Informationen über politische Entwicklungen in Westdeutschland oder über die Entwicklung in den Kirchen er mit diskutierte - und auf der anderen Seite Zugeständnisse zu bekommen für kirchliche Freiräume oder für direkte Hilfen für einzelne Menschen. Die Kirche war in der Lage, Räume für den Eigensinn der Menschen zu schaffen, für ein Stückchen Gegenöffentlichkeit, für Lebenshilfen, zu Fragen von Menschenrechten, der Umwelt- und Friedenspolitik. Durch seine Kontakte war Manfred Stolpe auch ein wichtiger Ansprechpartner für westdeutsche Politiker, um Einschätzungen zu bekommen, um Verhandlungen mit der SED-Führung vorzubereiten etc.

Es gibt heute kaum noch Kontroversen über die historische Bewertung der Entspannungspolitik. Sie hat den Frieden sicherer gemacht und zu einem Austausch zwischen Ost und West geführt, der unumkehrbar wurde.Die Politik der Kirche in der DDR ist ein Stück weit eine Entsprechung dazu. Sie war der Versuch, systemkonform ein Maximum an Spielräumen und Freiheiten zu schaffen, für die Kirche selbst, aber auch für nichtkonforme Ideen und Gespräche. Andere Wege wären die Konfrontation mit dem Regime und das völlige Nischendasein gewesen. Beides hätte die Möglichkeiten stark eingeschränkt. Ob bei den Gesprächen an einigen Stellen zu viel Vertrautheit entstand, kann nur für jeden einzelnen Fall beurteilt werden. Ohne den Spielraum, den die Kirchen schufen, hätten wirksame Oppositionsgruppen nicht entstehen können, ohne die kirchlichen Veranstaltungen wären die Montagsdemonstrationen nicht entstanden, ohne den Schutz der Kirchenräume hätten sich nicht immer mehr Bürger zu Veranstaltungen gegen das DDR-Regime versammelt, ohne die Gespräche der Kirchenleitungen wären die Proteste im Herbst 1989 vielleicht nicht so friedlich verlaufen. Letztlich hat dreierlei das DDR-System zum Einsturz gebracht: die Distanz, die die Sowjetunion zur bornierten harten Haltung des DDR-Regimes einnahm, die Fluchtbewegung aus der DDR, die Stärke der Oppositionsgruppen und deren Demonstrationen („Wir bleiben hier“), an denen auch die offizielle DDR-Öffentlichkeit und die SED-Führung nicht mehr vorbei kamen.

Durch den Untergang der DDR wurden viele Menschen abrupt aus ihren Zusammenhängen gerissen. Sie mussten sich von heute auf morgen in einer neuen Gesellschaftsordnung zurechtfinden. Der Einsatz für Demokratie ist eine Lehre aus dem Entstehen von Diktaturen. Deshalb war es eine zentrale Aufgabe, nach 1990 die Menschen, vor allem die Jugend, von einem Engagement für die Demokratie zu überzeugen, in Parteien, in Vereinen, in Verbänden, generell vom ehrenamtlichen Engagement. Die Ostdeutschen mussten in einer völlig neuen Gesellschaft ankommen und die neuen Aufgaben annehmen. Identifikationsfiguren wie Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt haben in dieser Umbruchphase eine wichtige Aufgabe übernommen, die Menschen in das neue System zu begleiten und sie zu Anstrengungen der Integration und des Mitmachens in der neuen Gesellschaft zu motivieren. Der Umbruch von 1990 wird rückblickend unterschätzt, wenn diese Zeit auf Fragen reduziert wird, ob man sich in Verwaltungen oder Parteien hinreichend mit IMs und offiziellen Stasi-Mitarbeitern auseinandergesetzt und sie aus wichtigen Funktionen entlassen hat.

Gleichzeitig ist mir in meiner eigenen Biografie bewusst, dass ich mich kaum jemals so intensiv mit der Vergangenheit auseinandergesetzt habe wie in der Zeit von 1990 bis 1994. Es gab so viel zu diskutieren, die Vergangenheit von Manfred Stolpe, von Gustav Just, die Aufnahme von ehemaligen Mitgliedern von Blockparteien in die SPD... Der Vorwurf, es hätte eine Verdrängung in den Aufbaujahren in Brandenburg aufgrund der Diskussion um Manfred Stolpe gegeben, ist völlig falsch. Das Gegenteil ist richtig. Gerade durch die Auseinandersetzung auch mit der Rolle Manfred Stolpes in der DDR fand eine ganz intensive Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte statt. Breite Zusammenarbeit und das Handausstrecken zur Versöhnung sind erst auf dieser Basis möglich gewesen.

Im Übrigen war das Landeskabinett in Brandenburg 1990 das einzige in den neuen Ländern, das ohne „alte Kader“ auskam.

Martin Gorholt war Anfang der neunziger Jahre Landesgeschäftsführer der Brandenburger SPD, später Bundesgeschäftsführer, ist heute Staatssekretär für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes

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