Brandenburg: Masseninfektion
Es ist wohl eine Lebensmittelvergiftung: In Brandenburg sind durch Schulessen 1750 Kinder an Durchfall erkrankt. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Reiche erhebt schwere Vorwürfe gegen den Caterer Sodexo
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Potsdam - In Potsdam, Brandenburg und Berlin sind inzwischen knapp viertausend Kinder an der rätselhaften Magen–Darm–Masseninfektion erkrankt, die über das Schulessen verbreitet worden ist. In Brandenburg waren bis zum frühen Freitagabend bereits 1749 Kinder betroffen, davon 160 aus fünf Schulen in Potsdam. In Berlin stiegen die Zahlen um 1500 auf über 2200 Fälle. In ganz Ostdeutschland sind es jetzt 7000 Fälle.
Eine Task Force von Bund, den betroffenen Ländern Brandenburg, Berlin, Sachsen, Thüringen und Sachsen–Anhalt sowie dem Berliner Robert-Koch-Institut sucht weiter nach dem Erreger und seiner Quelle. Die Aufklärung der Waren-und Lieferströme im Zusammenhang mit dem Kantinenessen in Schulen und Kitas werde auch über das Wochenende mit Hochdruck vorangetrieben, hieß es.
Zwar lagen bis Redaktionsschluss noch keine amtlichen Erkentnisse vor, da die Laboruntersuchungen noch andauerten. Doch verdichteten sich Hinweise, dass es sich nicht um das gefährliche, in Einzelfällen nachgewiesene Noro-Virus, sondern um eine klassische bakterielle Lebensmittel-Vergiftung handelt. Die rasante Verbreitung deutete auf eine Lebensmittelvergiftung mit Staphylokokken hin, sagte Eva-Susanne Behl, Oberärztin der Kinderstation am Potsdamer Bergmann-Klinikum, den PNN. Diese Bakterien bilden Giftstoffe in Lebensmitteln, die dann über das Essen in den Magen-Darm-Trakt gelangen. Noro-Viren würden dagegen in erster Linie von Mensch zu Mensch übertragen, die Ansteckung über Speisen sei zwar möglich, aber wesentlich seltener, betonte Behl.
Alle betroffenen Schulen und Kindergärten waren vom deutsch-französischen Catering-Unternehmen Sodexo beliefert worden. Die Suche nach dem Erreger läuft auch dort auf Hochtouren: Derzeit müssen nach PNN-Informationen alle Mitarbeiter Stuhlproben testen lassen.
Gegen das Unternehmen erhob am Freitag die brandenburgische CDU-Bundestagsabgeordnete und parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium Katherina Reiche schwere Vorwürfe. „Der Skandal um Sodexo war nur eine Frage der Zeit“, sagte Reiche. „Ich bin nicht verwundert über die aktuelle Entwicklung – nur überrascht, dass es so lange gedauert hat, bis etwas passiert.“ Reiche begründete dies mit persönlichen Erfahrungen auch als betroffene Mutter schulpflichtiger Kinder. Sie erlebe seit „mehr als sieben Jahren die eklatante Mangelhaftigkeit in der Zubereitung und Hygiene bei Sodexo“, habe immer wieder Klagen von Eltern, Schülern und Lehrern über das Essen des Caterers gehört. Auf Beschwerden habe es keine Reaktion gegeben. Das Unternehmen hatte auch am Freitag Vorwürfe zurückgewiesen, kontaminiertes Essen ausgeliefert zu haben. Nur fünf Prozent der von Sodexo belieferten Einrichtungen seien von den Krankeitsfällen betroffen.
Auch das brandenburgische Verbraucherschutzministerium hat bislang keine Erkenntnissse über Hygiene-Misstände in den acht Großküchen des Caterers im Land, darunter in Werder (Havel) und Potsdam, die regelmäßig von den Gesundheitsbehörden untersucht worden seien. Und zwar ohne größere Mängel, wie Staatssekretär Heinrich-Daniel Rühmkorf den PNN sagte. Es habe keine Hinweise auf systematische Missstände gegeben. Am Freitag wurden alle Sodexo–Standorte kurzfristig von Gesundheitsämtern geprüft. Ergebnisse wurden bis zum Abend nicht bekannt. Rühmkorf kritisierte, „dass Reiche einen Generalverdacht äußert, noch ehe der Erreger und die Ursachen identifiziert sind. Es können auch Zulieferer gewesen sein.“ Wenn man noch nicht wisse, wer schuld sei, solle „man nicht mit der Klage kommen, dass das Essen nicht schmeckt.“
Regelmäßig lädt Sodexo in seine Großküchen auch Erzieher ein, etwa nach Werder bei Potsdam. Besonders der unangenehme Geruch in der hellen, mit riesigen Edelstahlherden ausgestatteten Küche habe einige Erzieher irritiert, berichteten Besucher. Der Gestank von altem Fleisch habe in der Luft gelegen. Sodexo-Mitarbeiter seien jedoch mit Mütze, Plastikhandschuhen und Kittel aufgetreten. Vor dem Dienst hätten sie sich wie die Besucher desinfiziert. Womöglich stamme die Infektion von Fischstäbchen, berichten Kenner. Diese würden der Firma Sodexo gefroren zugeliefert.
Im Land Brandenburg mit den 1749 erkrankten Kindern sind inzwischen sieben Landkreise betroffen, nämlich Dahme- Spreewald, Elbe-Elster, Oberhavel, Barnim, Havelland, Potsdam-Mittelmark, Märkisch–Oderland sowie die Städte Potsdam und Brandenburg. Am Donnerstag waren es noch fünf Landkreise. An einigen Standorten, etwa in Stahnsdorf (Potsdam-Mittelmark) und Schwanebeck (Barnim), blieben Schulen auf Anraten der Gesundheitsämter zeitweise geschlossen. Die Stadt Teltow entschied, vorläufig kein Essen mehr vom Caterer zu beziehen. Die Behörden rechnen mit einem schnellen Abflauen der Massenerkrankung, da in Brandenburg die Schulferien begannen.
Auch im Potsdamer Rathaus hofft man auf eine Entspannung der Lage durch die beginnenden Herbstferien. In der Landeshauptstadt waren bis Freitagnachmittag 160 Kinder aus fünf Schulen betroffen, wie Stadtsprecher Jan Brunzlow sagte. Der Erreger sei jedoch noch nicht bekannt, sagte er. Zwei Kinder hätten stationär behandelt werden müssen. Auch fünf Erzieher und Lehrer seien mittlerweile erkrankt, zudem seien zwei Kinder von Tagesmüttern erkrankt. Die Stadt hatte alle zehn von dem Caterer belieferten Schulen in Potsdam abgefragt. Mitarbeiter des Potsdamer Lebensmittelüberwachungsamtes untersuchten am Freitag zudem die Potsdamer Küche des Caterers an der Sportschule: „Dort gab es keine Befunde“, so Brunzlow. An den fünf von Potsdam aus belieferten Schulen seien auch keine Krankheitsfälle aufgetreten.
Am Potsdamer Klinikum Ernst von Bergmann mussten seit Donnerstag acht Kinder aus der Region stationär behandelt werden, zudem gab es vereinzelte ambulante Patienten. Das sagte Eva-Susanne Behl, Oberärztin der Kinderstation des Klinikums. „Die Kinder waren nicht schwer krank, aber tropfbedürftig“, erklärte die Medizinerin. Das Potsdamer Gesundheitsamt rät dazu, sich im Krankheitsfall auch am Wochenende beim Bereitschaftsarzt zu melden und sich auf das Virus testen zu lassen. Zusätzlich zur Einhaltung der üblichen Hygieneregeln empfiehlt das Gesundheitsamt bei betroffenen Haushalten auch den Einsatz von Desinfizierungsmittel für die Hände. Dabei müsse darauf geachtet werden, dass das Desinfektionsmittel für den Einsatz gegen das Noro-Virus ausgezeichnet ist.
Mit der Epidemie wird die Debatte um Schulessen und Großküchen in Berlin und Brandenburg neu angeheizt. Der Landeselternausschuss in Berlin forderte eine Abkehr von Großküchen in Bildungseinrichtungen. Zudem sollte das Schulessen durch Schule und Eltern mehr kontrolliert werden. Auch der Preisdruck sei Nährboden für solche Vorfälle. Eine bessere Finanzierung der Schulen wünscht sich auch der Verband der Caterer. Im Vergleich zu anderen Ländern seien die Berliner Preise gefährlich niedrig, sagt Rolf Hoppe vom Verband der Schulcaterer. Ähnlich äußerte sich die Opposition im Abgeordnetenhaus. Es fehlten Vorgaben bei Preisen und Kontrolle der Lieferfirmen. Mit dem Betrag von 1,97 Euro pro Mahlzeit könnten viele Firmen kein hochwertiges Essen liefern. Dagegen nahm Brandenburgs Bildungsministerin Martina Münch (SPD), von Beruf selbst Ärztin, die Caterer in Schutz. Rund 80 gibt es im Land. Diese bemühten sich um Qualität, sagte sie. „Ich bin nicht der Meinung, dass Schulessen zu billig ist, um gut zu sein.“ In Berlin hatte das eine Studie im Auftrag des Senates ergeben. Im Land Brandenburg gibt es bislang keine landesweite Untersuchung zur Qualität des Schulessens.
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