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Brandenburg: Notstand an den Sozialgerichten

Das Landessozialgericht schlägt wegen der anhaltenden Klageflut Alarm und fordert deutlich mehr Personal

Potsdam - In einem einmaligen Vorgang ausgerechnet zum Amtswechsel des Linkepolitikers Helmuth Markov vom Finanz- zum Justizminister hat das Landessozialgericht wegen des akuten Personalmangels an den vier Sozialgerichten Brandenburgs Alarm geschlagen und vor einer anhaltenden Notlage gewarnt. Das Vertrauen in das Justizministerium ist angesichts der seit Jahren angespannten Situation inzwischen derart geschwunden, dass sich der Vize-Präsident des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Herbert Oesterle, zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschlossen hat. Er beruft sich dabei auf die „Fürsorge für den Rechtsschutz suchenden Bürger“ und für das eigene Personal. Er forderte eine zügige Aufstockung des Personals um zehn Prozent, derzeit sind es 70 Richter.

Laut Oesterle sind die vier brandenburgischen Sozialgerichte in Potsdam, Neuruppin, Cottbus und Frankfurt (Oder) „aufgrund ihrer außergewöhnlichen Belastung in vielen Fällen nicht mehr in der Lage, den verfassungsrechtlich gebotenen zeitnahen Rechtsschutz zu gewährleisten“. Wegen der seit Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze im Jahr 2005 anhaltenden Klageflut ist die Zahl der unerledigten Verfahren von 15416 im Jahr 2005 auf 35 070 im vergangenen Jahr gestiegen. In 60 Prozent dieser unerledigten Verfahren, genau 20700, geht es um Streitigkeiten zwischen Behörden und Beziehern von Hartz-IV-Leistungen. Die Zahl der eingangenen Verfahren stieg von 2005 bis Ende 2013 von 13 211 auf 24 136, die Zahl der erledigten Fälle stieg im gleichen Zeitraum von 12 300 auf 23 427.

Wie Oesterle erklärte, sind in keinem anderen Bundesland die Sozialrichter derart stark belastet wie in Brandenburg, mit 400 erledigten Verfahren pro Jahr und Sozialrichter liegt Brandenburg zugleich bundesweit an der Spitze. Allerdings sind in kaum einem Bundesland die Aktenberge unerledigter Verfahren je Sozialrichter so hoch wie in Brandenburg. Auf jeden Sozialrichter kommt ein laufender Bestand von 600 Verfahren, in Berlin sind es 400 Verfahren je Richter.

Die Folgen sind für das Personal gravierend. „Die seit Jahren anhaltende weit überdurchschnittliche Arbeitsbelastung verschleißt zunehmend das richterliche wie auch das nichtrichterliche Personal“, sagte Oesterle. „Seit Langem wird jenseits der Grenze der Belastbarkeit gearbeitet, was notgedrungen zunehmend erhebliche Krankheitszeiten nach sich zieht.“

Und der Aktenberg wird immer größer. Sieben Prozent der unerledigten Verfahren sind zum Stichtag 1. Januar 2014 seit drei Jahren und länger schon in erster Instanz anhängig und nicht erledigt. Oesterle bezeichnete dies als überaus besorgniserregend. „Unter der Verfahrensdauer leiden in erster Linie die Rechtsschutz suchenden Bürger, die immer länger in für sie teilweise existenziell wichtigen Streitsachen auf eine Entscheidung warten müssen“, sagte der Vize-Präsident des Landessozialgerichts. „Betroffen ist aber auch die Staatskasse, denn zunehmend werden Entschädigungsklagen der Rechtsschutzsuchenden wegen überlanger Verfahrensdauer Erfolg haben.“

Zwar ist die Zahl der Sozialrichter seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze in Brandenburg stetig gestiegen. Doch laut Oesterle haben Personalaufstockungen den „Trend der Überlastung nicht aufgehalten, sondern nur abgemildert“. 2005 waren es 34,5 Richter an den vier Sozialgerichten, 2009 dann 51, im Jahr 2011 schließlich 65. Im Jahr 2012 gab es 61 Richter, 2013 dann 70. Ex- Justiminister Volkmar Schöneburg hatte durchgesetzt, dass Richter von ordentlichen Gerichten und Arbeitsgerichten durch Abordnungen längere Zeit aushelfen.

Darauf verwies auch Justizminister Markov gegenüber den PNN. 2010 seien 27 neue Planstellen bei den Richtern und 36 Planstellen bei der Rechtspflege geschaffen worden. Wie viele Stellen davon besetzt sind, will Markov klären. Er räumte es, dass dies nicht ausreiche, um die den hohen Bestand an Altfällen abzubauen, „weil Unmengen neue Klagen kommen“ und der Aufwand in den Verfahren an Sozialgerichten durch erforderliche Gutachten und Stellungnahmen überdurchschnittlich hoch sei. Er versprach, sich der Probleme an den Sozialgerichten anzunehmen, machte aber zugleich den Bund wegen der Hartz-IV-Gesetze dafür verantwortlich: „Wir werden uns dem widmen, aber wir können nichts für die katastrophalen handwerklichen Fehler des Bundes bei der Gesetzgebung“, sagte Markov den PNN. „Der Bund muss die Gesetze in Ordnung bringen. Wir werden versuchen, da Druck aufzubauen.“

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