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NSU-Prozess: NSU-Aufklärer erhebt schwere Vorwürfe
Sebastian Edathy kritisiert Umgang des brandenburgischen Verfassungsschutzes mit V-Mann „Piatto“
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Potsdam/Berlin - Wegen der Pannenserie in den Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit dem Neonazi-Terror-Trio „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) wächst die Kritik an der Verfassungsschutzabteilung des brandenburgischen Innenministeriums. Grund ist der Umgang mit dem V-Mann „Piatto“ in den 1990er-Jahren, der einige der wenigen Hinweise von V-Männern auf die damals gerade untergetauchten Neonazis gegeben hatte und in deren Helferumfeld platziert war.
Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, Sebastian Edathy, warf im PNN-Interview dem brandenburgischen Verfassungsschutz nun gleich schwere, unvertretbare Fehler, Täuschung der Justiz und einen fahrlässigen Umgang mit den von Piatto abgeschöpften Informationen zu dem 1998 untergetauchten Neonazi-Trio vor.
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe werden eine Mordserie an neun türkischen und einem griechischen Kleinunternehmer, an einer Polizistin in Heilbronn, ein Nagelbombenattentat in Köln und Raubüberfälle zugerechnet. Das hätte möglicherweise durch Brandenburgs Verfassungsschutz verhindert werden können. Denn der V-Mann Piatto hatte 1998 relevante Informationen geliefert – dass ein Neonazi-Trio sich Waffen besorgen wollte, einen Überfall plante und sich Pässe besorgen wollte, um sich ins Ausland abzusetzen. Tatsächlich wurden die drei seit Anfang 1998 per Haftbefehl wegen Bombenbaus gesucht.
Indirekt wirft Edathy dem Brandenburger Verfassungsschutz vor, damals die effektive Suche nach dem Trio noch vor deren Mordserie behindert zu haben. Brandenburg habe Thüringen und Sachsen wegen Quellenschutzes verweigert, dass wichtige Informationen von Piatto, die fahndungsrelevant gewesen wären, formal an die Polizei weitergegeben werden, sagte der SPD-Politiker. Dies sei schlichtweg fahrlässig. „In einem demokratischen Rechtsstaat ist das sehr problematisch“, so Edathy. Piatto sei ein Musterbeispiel dafür, wie das V-Mann-Wesen nicht gestaltet werden dürfe.
Der Vorgang ist nächsten Montag Thema im NSU-Untersuchungsausschuss. Dann ist der Leiter des Referats „Auswertung politischer Extremismus“, Gordian Meyer-Plath, der seit Sommer 2012 den Verfassungsschutz in Sachsen kommissarisch leitet, als Zeuge geladen.
Überdies sagte Edathy, dass Carsten S., damals ein führender, wegen versuchten Mordes an einem Asylbewerber verurteilter Neonazi, gar nicht als V-Mann hätte angeworben werden dürfen. Stattdessen habe der Verfassungsschutz sogar einen aktiven Beitrag für kürze Haftzeit und Haftlockerungen geleistet – und das durch gezielte Nichtweitergabe relevanter Informationen über dessen Aktivitäten in der rechtsextremistischen Szene an die Justiz. „Das alles ist unvertretbar“, sagte Edathy. Hier sei „jedes Maß an Verhältnismäßigkeit gesprengt worden“.
Er widersprach damit dem Innenministerium, das die Anwerbung verteidigt und damals die Rückdeckung selbst der oppositionellen PDS im Landtag hatte und korrektes Handeln bescheinigt bekam. Die scheidende Verfassungsschutzchefin Winfriede Schreiber hatte kürzlich zwar Fehler eingeräumt, grundsätzlich jedoch Piatto als gute, zuverlässige Quelle verteidigt. Er war einer von mehr als 20 V-Männern mit Kontakt zum NSU oder dessen Umfeld. Ende 2011 war das NSU-Trio aufgeflogen. Mundlos und Böhnhardt töteten sich selbst. Zschäpe stellte sich. Ihr und vier Helfern wird ab Mittwoch nächster Woche vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gemacht.
Lesen Sie das Interview mit Sebastian Edathy in der MITTWOCHAUSGABE DER POTSDAMER NEUESTEN NACHRICHTEN.
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