Brandenburg: Raumpioniere finden und fördern
Interview mit dem Regionalforscher Prof. Ulf Matthiesen zum Bevölkerungsrückgang in Brandenburg
Stand:
Ulf Matthiesen, 64, ist Regionalforscher am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner. Er leitet dort die Abteilung für Wissensmilieus und Raumstrukturen.
Sie haben schon vor Jahren Alarm geschlagen, dass die Berlin fernen Städte und Dörfer Brandenburgs in den nächsten Jahrzehnten bis zu 50 Prozent ihrer Einwohner verlieren werden. Jüngste Prognosen bestätigen das. Tickt hier eine Zeitbombe?
Ja, sicherlich. Die Bevölkerungsentwicklung wird für Brandenburg sehr prekäre Wirkungen haben.
Ist die Politik darauf vorbereitet?
Sie tut einiges, aber nicht genug, denn die Ungleichgewichte innerhalb des Landes werden sich weiter verschärfen. Wir hatten leider bis etwa 2000 die Lage, dass diejenigen, die vor der Dramatik des Bevölkerungsrückgangs gewarnt haben, als Störenfriede und Schwarzmaler angesehen wurden. Jetzt agieren viele unter der Leitvorstellung eines „geographischen Determinismus“, als ob jede Prognose haargenau eintreten muss. Dabei ist kein Think Tank der Welt in der Lage, Migrationsprognosen mittel- und langfristig niet- und nagelfest zu machen. Unter anderem, weil man handeln und eingreifen kann.
Müssen in strukturschwachen Regionen perspektivisch Ortschaften aufgegeben werden?
Sie werden sich so entleeren, dass dort nur noch sehr wenige alte Menschen übrig bleiben. Was dann passiert, hängt auch von den Leuten selbst ab. Ob sie ihr Leben so organisieren können, dass sie sich dort noch wohl fühlen, wird man sehen. Man kann Menschen schwerlich zwangsumsiedeln. Auch deshalb müssen wir uns neu den Kopf machen, was mit diesen Räumen geschehen soll.
Sie warnten schon 2003 eindringlich vor einem „Brain Drain“, dem Abfluss von Intelligenz und Kompetenz aus den Randregionen, weil vor allem die Jungen und gut Ausgebildeten weggehen. Was sind die Konsequenzen?
Es ist zu befürchten, dass mit einem kontinuierlichen Brain Drain, der ja – ich erinnere nur an die DDR - eine lange Vorgeschichte hat, in der Tat lokale Kompetenzen so weit ausgedünnt werden, dass es in diesen Regionen keine Wende zum Besseren geben kann. Da wird eine Messlatte unterschritten, so dass Innovationen kaum mehr möglich sind.
Kann ein armes Land wie Brandenburg eine Entvölkerung der Randregionen, die in ihren Dimensionen an den Dreißigjährigen Krieg erinnert, überhaupt beherrschen?
Brandenburg muss dazu seine Lagegunst rund um die Metropole Berlin stärker in den Blick nehmen und ausnutzen. Ohne die Chancen dieser Metropolenregion als Gesamtraum wäre das Flächenland Brandenburg mit den neuen Problemen sicherlich überfordert.
Wäre eine Fusion hilfreich?
Ja, aber sie ist ja von der politischen Tagesordnung gestrichen worden.
Der Platzeck-Berater Thomas Kralinski hat in einem Thesenpapier für einen „geordneten Rückzug“ aus entvölkerten Regionen und eine „kontrollierte Verwilderung“ plädiert. Werden die Randregionen Brandenburg zum großen Naturpark?
Das Geordnete an dem Rückzug sehe ich bislang nicht und wie Wildnis und Kontrolle zusammenpassen ist mir auch noch nicht ganz klar. Aber Kralinski spricht daneben wichtige Trends und Tendenzen an wie die noch stärkere Konzentration der Förderpolitik auf wenige Städte, Teilregionen und Branchen. Diese Wende kommt etwas spät und sie reicht nicht. Nötig sind einfallsreiche neuen Politik-Strategien und Konzepte gerade für die Randregionen.
Wie können sie konkret aussehen?
Brandenburg braucht zusätzlich zum Konzept „Stärken gezielt stärken“ eine zweite Entwicklungsflanke. Das Land sollte beispielhaft versuchen, Raumpioniere für die strukturschwachen Regionen zu gewinnen. Menschen, die bewusst in die sich entleerenden Räume gehen, dort mit hoher Selbstausbeutung und gegebenenfalls auf eigene Rechnung etwas auf die Beine stellen. Das Konzept ist sehr breit, es reicht von A bis Z. Also von zurückkehrenden Adelsfamilien, Designer-Studios in umgebauten Viehställen, Lehmbaufirmen, Slow-food-Netzen und Öko-Landbau bis hin zu neuen Tauschringen mit einer Z-Währung und zu Zwischennutzungen.
Ein Beispiel bitte?
Der Verein LandKunstLeben mit seinem Schlossgartenprojekt in Steinhöfel. Letzte Woche war das diesjährige sehr erfolgreiche Eröffnungsfest mit „Kochenden Gärten“, mit vielen Einheimischen, mit regionalen wie internationalen Kulturschaffenden und neugierigen Touristen. Vorbildlich erhalten hier aus der Nutzung gefallene Räume neue Funktionen.
Sollte das Land solche Raumpioniere verstärkt fördern?
Ohne Zweifel ja. Denn die klassische Förderpolitik geht bislang an solchen Raumpionieren fast völlig vorbei. Brandenburg muss in dieser Hinsicht viel einfallsreicher werden und Mut zu Experimenten zeigen. Es kann hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Das würde das Land zusätzlich attraktiv machen.
Wo sollen die Raumpioniere herkommen?
Aus Berlin, aus der Bundesrepublik, aus dem Ausland – und natürlich auch aus der näheren Umgebung. Dem Brain Drain ist allein mit lokalen Mittel nicht beizukommen, das Land ist auf externe Kompetenz und Energie angewiesen - trotz der vielen wunderbaren lokalen Aktivitäten. Vielfach gibt es vor Ort schon so etwas wie den Verlust der Fähigkeit, zukunftsfähige Ideen zu entwickeln und an zukunftsfähige Entwicklungen anzuschließen. Da haben Raumpioniere, wie eine Fülle von Beispielen beweist, eine große motivierende Kraft für Eingesessene und überlokale Struktureffekte.
Mit der Entvölkerung der Randregionen gehen schwierige Probleme einher: Wohnungsleerstand, Überalterung, Fachkräftemangel, überdimensionierte Infrastruktur usw. Ist das alles überhaupt lösbar?
Die alten Fördersicherheiten und Infrastrukturstandards wird es nicht mehr geben können. Da muss vieles angepasst werden. Flexibilisierung heißt hier das Zauberwort. Es müssen zudem neue Wege gefunden werden, etwa eine Übergabe in bürgergesellschaftliche Verantwortung ohne Überlastung, mobile Kulturangebote usw. Aber das kann nicht alles sein. Brandenburg wird zum Beispiel viele Städte zurückbauen oder überdimensionierte Abwasseranlagen stilllegen müssen.
Kann es das finanziell leisten?
Die Hoffnung auf höhere Transferleistungen des Bundes ist unrealistisch. Deshalb bleibt Brandenburg gar nichts anderes übrig, als die schwierigen Probleme des Rückbaus aus eigener Kraft zu bewältigen und sich ansonsten mehr einfallen zu lassen. Etwa eine entschlossene projektförmige Förderung von Raumpionieren.
Das Interview führte Michael Mara
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