Brandenburg: Schabowskis Zettel ist wieder da
Vor der Pressekonferenz am 9. November 1989 hatte sich der SED-Funktionär den Ablauf notiert
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Bonn/Berlin - Es ist nur ein dünnes, liniertes Blatt Papier, mit schwarzem Kugelschreiber krakelig beschrieben und hier und dort rot unterstrichen. Auf den ersten Blick lässt sich wenig entziffern. Und doch ist dieser Zettel „eines der wenigen Dokumente der jüngeren Zeitgeschichte, von dem man sagen kann, dass es die Weltgeschichte beeinflusst hat“. So formuliert es Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn. Es ist der lang verschollene Notizzettel des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski aus seiner historischen Pressekonferenz vom 9. November 1989.
Auf dem Weg hatte Schabowski auf diesem Zettel notiert, worüber er vor den Journalisten in welcher Reihenfolge sprechen wollte. Am Ende steht: „Verlesen Text Reiseregelung“. Dabei handelte es sich um eine am selben Tag beschlossene Regelung, wonach DDR-Bürgern künftig Reisen in den Westen erlaubt sein sollten.
Allerdings hatte es sich die SED-Führung so vorgestellt, dass diese Reisen nur unter bestimmten Auflagen und auch erst vom nächsten Tag an beantragt werden konnten. Die Reisen in den Westen sollten vielleicht vor Weihnachten beginnen, aber bestimmt nicht in derselben Nacht. All das war Schabowski entgangen, weil er bei der Besprechung nicht dabei gewesen war. Und so antwortete er an diesem Abend auf die Frage eines italienischen Journalisten, ab wann die neue Regelung denn gelte: „Das trifft ... nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“ Dies führte binnen weniger Stunden zum Fall der Berliner Mauer.
Schabowskis Sprechzettel war verschwunden, seit er ihn 1991 an einen Bekannten gegeben hatte. Nun meldete sich der Eigentümer, der anonym bleiben will. Er stammt ebenfalls aus Schabowskis Bekanntenkreis. Ihm kaufte das Bonner Museum das Dokument für 25 000 Euro ab. Wäre das Papier erst auf den Auktionsmarkt gelangt, hätte es ungleich mehr gekostet, wie Hütter betont.
Da liegt er nun also auf Hütters Schreibtisch, der Zettel. Sammlungsdirektor Dietmar Preißler hat nicht den geringsten Zweifel an der Echtheit: „Alles ist genau überprüft worden.“ Wie der Zettel aussah und was draufstand, war schon lange bekannt, weil ein Historiker eine Fotokopie besaß. Nur das Original fehlte.
„Hier zeigt sich, was alles in einem Zettel stecken kann“, sagt Preißler. Es finden sich Notizen wie „Zeit!“ und „Nicht länger als 19:00“ – die Pressekonferenz sollte rechtzeitig zu Beginn der abendlichen Nachrichtensendungen im Fernsehen beendet sein. Ebenfalls auffällig: „Frage – Antwort“. Dass bei Pressekonferenzen der SED auch Fragen kritischer Journalisten zugelassen wurden, war noch neu. Vielleicht am aufschlussreichsten ist die Notiz am unteren Rand: „Noch Fragen. Erneut Bezug zu Reiseregelung. Schritt zu Normalität“.
Das war es, was sich die DDR-Spitze von der neuen Regelung versprach: Die in Aussicht gestellte Möglichkeit, aus- und auch wieder einzureisen, sollte den Dampf aus der Friedlichen Revolution nehmen und den Staat stabilisieren. Bekanntermaßen ging das schief. Mit seiner Pressekonferenz hatte Schabowski eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich nicht mehr beherrschen ließ. Tausende von Ost-Berlinern strömten danach zu den Grenzübergängen und verlangten unter Berufung auf ihn, in den Westteil gelassen zu werden. Die überforderten Grenzsoldaten gaben schließlich nach.
Schabowski – heute 86-jährig und nach mehreren Infarkten sehr krank – hat diese Dynamik selbst schonungslos analysiert. In einer TV-Doku sagte er: „Wenn Sie anfangen, die Diktatur durch gewisse Reformen zu lockern, dann zeigt sich, dass diktatorische Regime durch Reformen nicht zu verbessern oder zu veredeln sind, sondern sie sind durch Reformen nur abzuschaffen.“ Christoph Driessen
Christoph Driessen
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