Dreck als Nische?: Schmutzige Industrien sollen Osten retten?
In Potsdam stellten die Grünen in der Villa Schöningen provokante Thesen eines Wirtschaftsforschers vor
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Potsdam - Die These ist provokant. Nach Ansicht des Wirtschaftsforschers Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden sollten sich strukturschwache Regionen in Brandenburg und Ostdeutschland angesichts schlechter Zukunftsperspektiven gezielt um die Ansiedlung von Industrien bemühen, „die sonst keiner haben will“. Das sagte Ragnitz am Mittwoch auf einer wirtschaftspolitischen Fachkonferenz der Brandenburger Grünen-Landtagsfraktion in der Villa Schöningen in Potsdam. Und zwar ausdrücklich in Bezug auf die Stichworte wie „Müllverbrennungsanlagen, eine aktive Bewerbung um atomare Endlager, Kohlendioxid-Lager bei der CCS-Technologie, ja selbst Atomkraftwerke“, die ihm die Moderatorin Ursula Weidenfeld genannt hatte. In bestimmten Regionen könne man vielleicht wenigstens so etwas Wertschöpfung aufbauen, sagte Ragnitz. „Irgendwo muss es hin. Und wenn dann ist es sinnvoll, Industrien, die sonst keiner will, in dünnbesiedelten Regionen anzusiedeln.“
Im Grunde war das dann nur noch die konsequente Quintessenz seines Vortrages, in dem der Wirtschaftsforscher, der sich selbst als „Kassandra des Ostens“ bezeichnete, ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Perspektiven Ostdeutschlands gezeichnet hatte. Eine Angleichung an das Westniveau ist nach den von ihm vorgelegten Daten längst illusorisch. „Es ist zu erwarten, dass es zu einer Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt“, sagte er. Der Rückstand beim Brutto-Inlandsprodukt gegenüber dem Westen – von knapp 30 Prozent je Einwohner oder knapp 20 Prozent je Erwerbstätigen – sei seit Jahren stabil, keine Annäherung feststellbar. Im Grunde gibt es laut Ragnitz dabei auch keine signifikanten Unterschiede innerhalb Ostdeutschlands, egal welche Wirtschaftspolitik man seit 1990 versucht habe, auch innerhalb Brandenburgs selbst – egal, ob Regierungen auf dezentrale Konzentration, auf Staatsinterventionismus oder mehr Markt setzen oder wie derzeit eher alles laufen lasse. „Offensichtlich ist Landeswirtschaftspolitik nicht relevant.“ Seine Prognose: Mit dem Rückgang der Transferleistungen aus dem Westen und dem Schrumpfen der Bevölkerung werde in den nächsten Jahrzehnten die Binnennachfrage sinken, der Osten stehe vor einer „dramatischen Entwicklung“, klassische Instrumente seien ausgereizt, ob Verkehrsinfrastrukturprojekte oder die traditionelle Förderpolitik. Ragnitz kritisierte dabei selbst die aktuelle „Clusterstrategie“ des Wirtschaftsministeriums zur Förderung von Netzwerken innovativer Branchen als „riskant“. Unterstützung bekam er von Wolfgang Krüger, Hauptgeschäftsführer der Cottbuser Industrie- und Handelskammer und früher Staatssekretär im Potsdamer Wirtschaftsministerium. In Brandenburg, mit seiner kleinteiligen Wirtschafsstruktur gebe es gar keine Cluster.
Doch musste Ragnitz Kritik einstecken, dass die Wissenschaft als Politik-Berater mit realen Lösungsvorschlägen zur Bewältigung der Herausforderungen ausfällt. Und Grünen-Fraktionschef Axel Vogel blieb es vorbehalten, die Clusterstrategie des Wirtschaftsministeriums als grundsätzlich richtigen Weg zu verteidigen. Thorsten Metzner
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