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NACH DEN KINDSTÖTUNGEN VON BRANDENBURG Die Suche nach den Ursachen: „Schönbohm schürt böse Vorurteile“

Wissenschaftler kritisieren die These des Potsdamer Innenministers – und fordern einen gesamtdeutschen Lernprozess

Von Matthias Schlegel

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NACH DEN KINDSTÖTUNGEN VON BRANDENBURG Die Suche nach den UrsachenWissenschaftler kritisieren die These des Potsdamer Innenministers – und fordern einen gesamtdeutschen Lernprozess Von Matthias Schlegel Berlin - Es ist Wahlkampf – und Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) steht mittendrin. Mit seiner Äußerung im Zusammenhang mit den Kindstötungen in Brandenburg, die „von der SED erzwungene Proletarisierung“ im Osten Deutschlands sei „eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“, hat er allerdings nicht nur den politischen Gegner gegen sich aufgebracht. Doch was ist dran an Schönbohms These, was sagen Wissenschaftler – fern vom Kampfgetümmel der Parteien in der Vorwahlzeit? Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, möchte deutlich differenzieren zwischen Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft: Dass eine Art von Verwahrlosung durch vorausgegangene Proletarisierung zu verzeichnen sei, darin könne man Schönbohm in gewissem Sinne folgen. Das beziehe sich aber nicht in erster Linie auf die Täter selbst, sondern vor allem auf das Umfeld – auf das Wegschauen, das Akzeptieren, die unzureichenden Normen gesellschaftlicher Kontrolle. Die Ursachen dafür reichten aber zum Teil viel weiter zurück als bis in die Zeit der SED-Herrschaft. „Die ländliche Gesellschaft im Osten war schon immer stärker proletarisiert als die etwa in Bayern, Baden-Württemberg oder Niedersachsen“, sagt Nolte dem Tagesspiegel. Im Osten Deutschlands habe die alte Gutsgesellschaft, nicht die Gesellschaft freier Bauern vorgeherrscht. „Sehr zurückhaltend“ ist Nolte allerdings, solche Tatsachen auch als Ursache für eine möglicherweise höhere Gewaltbereitschaft der Menschen zu sehen. Der Historiker weist zugleich darauf hin, dass dies kein ureigenes Phänomen der DDR-Gesellschaft sei. Zwar habe es dort eine politisch gesteuerte Strategie des Ablegens bestimmter bürgerlicher Werte gegeben. Aber auch im Westen sei unter den Bedingungen der Industrialisierung „eine Verwahrlosung aus den Mechanismen der Konsumgesellschaft heraus“ zu verzeichnen gewesen. Und Nolte fügt hinzu: „Es gibt einen ähnlichen Typ der westlichen Verwahrlosung, vielleicht auch einen westlichen Typ der Proletarisierung, unter dem Ähnliches in Westdeutschland passieren könnte.“ Darüber müsse in ganz Deutschland diskutiert werden. Hans-Joachim Maaz, Direktor der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniekrankenhaus Halle, geht härter mit Schönbohm ins Gericht: Was dieser sage, sei „eine schlimme Fehleinschätzung und ein böses Vorurteil gegen den Osten“. Man könne der DDR vieles vorwerfen, sagte Maaz im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Aber nicht, dass sie Verrohung und erhöhte Gewaltbereitschaft gefördert habe – das habe im übrigen nicht zuletzt der Verlauf der friedlichen Revolution gezeigt. Die in der DDR vermittelten Werte wie Ordnung, Disziplin und Gemeinschaftssinn hätten, wie immer man dazu stehe, vielen Leuten Halt gegeben. Aber die Folgen der deutschen Einheit hätten viele Menschen „schwer getroffen und labilisiert“, sagt der Ostdeutsche. Manche würden sich psychotherapeutisch behandeln lassen, andere griffen zur Flasche und einige seien gewaltbereit. Die Vereinigungspolitik habe den psychosozialen Problemen keine Beachtung geschenkt. Menschen, denen Unterordnung auf Kosten der Individualität anerzogen worden war, hätten sich plötzlich selbst behaupten müssen. Daran seien viele gescheitert. Wie Nolte hält auch Maaz einen gesamtdeutschen Lernprozess für nötig: Dem Gemeinschaftswesen Ostler habe der Individualist Westler gegenübergestanden. „Zum vollwertigen Menschen aber gehört beides. Also müssen beide lernen.“ Äußerungen wie die von Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) über die Zustände in der DDR sind nach Ansicht des Jenaer Soziologen Bruno Hildenbrand historisch unangemessen. „Die DDR ist nicht homogen als eine wertelose proletarische Gesellschaft zu betrachten“, sagte der Wissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität. Schönbohm hatte nach dem Fund von neun Babyleichen in Brieskow-Finkenheerd maßgeblich das SED-Regime und eine „erzwungene Proletarisierung“ für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft im Osten verantwortlich gemacht. „Wenn man der Gedankenlinie von Schönbohm folgen will, muss man es historisch breiter fassen“, sagte Hildenbrand. In Ostdeutschland gebe es zwischen Nord und Süd die Probleme von Familien betreffend signifikante Unterschiede. „Wir untersuchen im fünften Jahr die Kinder- und Jugendhilfe in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen“, sagte der Soziologe. „Das Risiko, als Familie beim Jugendamt auffällig zu werden, ist in Mecklenburg-Vorpommern doppelt so hoch wie in Thüringen.“ In Thüringen habe sich die ländliche Struktur aus einem Klein- und Mittelbauerntum heraus entwickelt. In Mecklenburg-Vorpommern dagegen bildete sich ein vom Gutsherren abhängiges Landarbeiterproletariat mit einer geringer ausgeprägten Selbstverantwortung. „Dieses Landarbeiter-Proletariat in den ehemaligen Güterprovinzen, die es auch in Brandenburg gab, war anfälliger für die Zumutungen des DDR- Systems“, sagte Hildenbrand. „Wenn ein Landproletariat-Problem besteht, dann ist es älter als die DDR.“ Schönbohm pauschaliere die Gesamtbevölkerung. Die Autonomie der Familie sei zwar in der gesellschaftlichen Praxis der DDR ausgehöhlt worden, sagte der Soziologe. „Ob das DDR-System damit Erfolg hatte, hängt aber von einzelnen Milieus ab.“ Die Mehrheit der Familien habe sich dem widersetzt. „Es ist nicht alles pauschal über eine Leiste zu schlagen.“

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