zum Hauptinhalt

Brandenburg: „Sie hätte Honecker am liebsten gleich mitgenommen“

Ein Brandenburger der ersten Stunde: Hans Otto Bräutigam erinnert sich – Auszüge aus seinem neuen Buch im exklusiven Vorabdruck

Stand:

Hans Otto Bräutigam ist einer der Geburtshelfer des Landes Brandenburg. Von 1990 bis 1998 war er unter dem damaligen Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) erster Justizminister des neu gegründeten Bundeslandes. Zuvor hatte Bräutigam sieben Jahre die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR geleitet. Über seine Zeit in Brandenburg hat der heute 84-Jährige ein Buch geschrieben, das am Montag erscheint und am 25. März bei einer Lesung mit Manfred Stolpe in der Bibliothek des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Am Neuen Markt 9 d, ab 19 Uhr vorgestellt wird. Exklusiv veröffentlichen die PNN täglich ausgewählte Passagen.

Im Strafvollzug war die Lage weniger dramatisch. Aufgrund der noch in der Schlussphase der DDR verfügten Amnestien war in Brandenburg die Zahl der Strafgefangenen auf 1 200 zurückgegangen, die von 1 400 Strafvollzugsbediensteten beaufsichtigt und betreut wurden. Ein außergewöhnlich günstiges Verhältnis von Häftlingen und Aufsehern, das angesichts der steigenden Kriminalität allerdings nicht von Dauer sein konnte. Vier der insgesamt neun Haftanstalten waren über hundert Jahre alt und nur unzureichend ausgestattet. Vor allem der Sicherheitsstandard ließ in allen Anstalten zu wünschen übrig, nachdem die Hochspannungsleitungen auf den Gefängnismauern und die Hundelaufbahnen aus der DDR-Zeit abgeschafft worden waren. (...)

Ein Gespräch mit einer Richterin ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Als ich hörte, dass an ihrem Kreisgericht noch keine Texte der jetzt geltenden Gesetze vorhanden waren, geschweige denn Kommentare und Fachliteratur wie zum Beispiel die Neue Juristische Wochenschrift, fragte ich die Richterin, wie man denn Urteile fällen könne, ohne die zugrunde liegenden Gesetze zu kennen. „Ach“, sagte sie lächelnd, „wir wissen doch, was rauskommen muss.“ Einen Augenblick war ich verwundert, doch dann schien mir eine derart einfühlsame Rechtsprechung, gestützt auf allgemeine Rechtsgrundsätze und den gesunden Menschenverstand, das Beste zu sein, was ein ostdeutscher Richter in dieser Zeit des Umbruchs tun konnte, zumal ein Stillstand der Rechtspflege im Zuge der deutschen Einheit unbedingt vermieden werden musste. Jedenfalls sah ich keinen Anlass, die schwierige Rechtsprechung in der Zeit des Übergangs von dem einen Recht zum anderen zu kritisieren und sagte der Richterin zu, mich um die Beschaffung der Gesetzestexte und Kommentare zu kümmern, was übrigens bei dem großen Bedarf in Brandenburg und den anderen „neuen Ländern“ gar nicht so einfach war. (...)

Die erste Haftanstalt, die ich besuchte, war das berüchtigte „Zuchthaus“ in Brandenburg an der Havel, in dem damals etwa 600 Gefangene einsaßen, darunter fast alle Schwerstkriminellen, die noch zu DDR-Zeiten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden waren. (...) Schließlich wurde ich in eine große Vorhalle geführt, in der eine dichtgedrängte Gruppe von etwa zwanzig Gefangenen auf das Zusammentreffen mit dem Minister wartete, links und rechts flankiert von Gefängnisaufsehern mit einem Gewehr im Anschlag. Ein erschreckendes Bild, das mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Der Anstaltsleiter wies mich darauf hin, dass ich mich der Gruppe nicht nähern dürfe, und schon gar nicht sei es zulässig, ihnen die Hand zu geben. Dann sagte er: „Sie wollten ja mit Gefangenen sprechen, bitte schön.“ (...)

Ende November rief mich die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach an und bat um ein persönliches Gespräch in einer wichtigen Angelegenheit. Natürlich war ich dazu gern bereit. „Bitte kommen sie sofort, wenn es dringlich ist. Und ich freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte ich. Eine Stunde später kam sie nach Potsdam. Worum es ihr ging, war in der Tat brisant. Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hatte soeben einen Haftbefehl gegen Erich Honecker erlassen, der sich zu dieser Zeit in einem sowjetischen Militärhospital in Beelitz unweit von Potsdam aufhielt. Die Justizsenatorin bat nun die brandenburgische Landesregierung, der Berliner Justiz bei der Festnahme des ehemaligen Staatschefs der DDR behilflich zu sein. Sie hatte bereits vorsorglich eine Gruppe von Berliner Polizeibeamten in Zivil mitgebracht. Ich reagierte zurückhaltend und wies meine Kollegin darauf hin, dass die brandenburgische Polizei wie auch die Berliner Polizei im Bereich der sowjetischen Truppen nur mit Zustimmung der sowjetischen Kommandantur tätig werden durfte. Diese würde eine Festnahme Honeckers sicher als eine politische Angelegenheit behandeln, in der das Oberkommando der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf zu entscheiden habe und das wahrscheinlich nur nach Rücksprache mit Moskau. Die Landesregierung sei selbstverständlich bereit, umgehend mit den sowjetischen Stellen Kontakt aufzunehmen, fügte ich hinzu. (...) Die Senatorin war sichtlich enttäuscht von dieser Auskunft. Sie hätte Honecker am liebsten gleich mitgenommen, zumal er sich ja auf deutschem Territorium aufhielt. Auf einen direkten Vorstoß bei den sowjetischen Truppen in Beelitz wollte ich mich allerdings nicht einlassen. (...) Wie ich später erfuhr, stellte die Berliner Staatsanwaltschaft daraufhin einen förmlichen Antrag bei der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf. Doch die Antwort ließ, wie ich schon vermutet hatte, auf sich warten. (...) Daraufhin wurde in Moskau entschieden, dem kommunistischen Kampfgefährten und früheren Bundesgenossen den Aufenthalt in der Sowjetunion zu gestatten. Am 13. März 1991 wurden Erich Honecker und seine Ehefrau Margot mit einer sowjetischen Militärmaschine in die Sowjetunion ausgeflogen. (Fortsetzung folgt)

Hans Otto Bräutigam: Meine Brandenburger Jahre – Ein Minister außer Diensten erinnert sich. Das Buch hat 280 Seiten und ist im Verlag für Berlin-Brandenburg (vbb) erschienen. Es kostet 22,99 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })