zum Hauptinhalt
Aktenberge. Für das Jahr 2010 erwartet allein das Berliner Sozialgericht insgesamt 44 200 neue Verfahren und damit einen Rekord.

© Michael Gottschalk/ddp

Von Thorsten Metzner: „Tanz auf der Rasierklinge“

Hartz-IV-Klagen halten Sozialgerichte in Atem, in Berlin stärker als in der Mark In der Hauptstadt ist die Bereitschaft größer, sich nicht alles gefallen zu lassen

Stand:

Potsdam/Berlin - Die Klage-Flut gegen Hartz-IV-Bescheide in Berlin und Brandenburg reißt nicht ab: Die Präsidentin des gemeinsamen Landessozialgerichts, Monika Paulat, erwartet 2010 allein für das Sozialgericht der Hauptstadt insgesamt 44 200 neu eingegangene Verfahren und damit einen Rekord. „Die Entwicklung in Berlin ist dramatisch“, sagte Paulat am Montag auf einer Pressekonferenz in Potsdam, wo das seit der aus ihrer Sicht „bewährten“ Gerichtsfusion für beide Länder zuständige Landessozialgericht seinen Sitz hat. In Brandenburg ist die Situation allerdings etwas weniger angespannt als in Berlin, wo am Sozialgericht bereits die 100 000. Klage gegen Hartz IV einging.

Die vier Sozialgerichte in Potsdam, Neuruppin, Frankfurt (Oder) und Cottbus sind durch diese Verfahren zwar ebenfalls stark belastet, aber anders als in Berlin stagnieren im Landestrend die Fallzahlen. Für 2010 erwartet Paulat auf Grundlage der bisherigen Monate 19900 Neu-Zugänge, 2009 waren es 20200 Neu-Verfahren. Innerhalb Brandenburgs gibt es ein Auf und ein Ab: Die Sozialgerichte Potsdam (6720 Neu-Fälle 2010, im Vorjahr 7270) und Cottbus (4092 gegenüber 4599 im Jahr 2009) registrieren Rückgänge, während in Neuruppin die Belastung leicht (3674 zu 3587 im Vorjahr) zunimmt, am Sozialgericht Frankfurt an der Oder stark: Dort stellt man sich 2010 auf 5446 Neu-Eingänge ein, 2009 waren es 4747.

Alles ist kein Vergleich zu Berlin. Dort haben sich am Sozialgericht die Eingänge seit 2005 von 22 000 auf 44 000 verdoppelt, in Brandenburg stiegen sie von damals 13200 auf jetzt 19900. Das liegt zunächst an der sozialen Situation. Berlin, die deutsche Hartz-IV-Hauptstadt, ist „ärmer“ als Brandenburg. Von 3,4 Millionen Einwohnern in Berlin leben 604 000 Menschen von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld, also etwa 17 Prozent. In Brandenburg sind es mit 294 000 Betroffenen bei 2,5 Millionen Einwohnern deutlich weniger, nämlich rund 8 Prozent.

Das Verfahrens-Gefälle in der Region führte Paulat aber auch auf ein „unterschiedliches Klageverhalten“ zurück. Die Berliner seien womöglich „kämpferischer“, auch gebe es dort ein dichteres Beratungs-Netz. Für die Sozialgerichte ist es hier wie dort ein Wettlauf mit der Zeit. Nachdem Berlin das Personal am Sozialgericht in den letzten Jahren verdoppelt hat, zieht Brandenburg unter der rot-roten Regierung jetzt nach. Die märkische Sozialgerichtsbarkeit – früher eher ein Stiefkind der Justizpolitik – soll 27 neue Richterstellen erhalten, eine „exorbitante Steigerung“, die größte in der Geschichte, wie Paulat lobte. Sie sei zuversichtlich, dann auch die zu langen Verfahrenszeiten spürbar zu verkürzen. In Potsdam sind es rund 16 Monate, in Frankfurt (Oder) 15 Monate, in Berlin dagegen nur 12 Monate. Brandenburgs Verfassungsgericht hatte Ende 2009 schneller Laufzeiten der Gerichte angemahnt.

Allerdings warnte Paulat, dass infolge des Sparpaketes der schwarz-gelben Bundesregierung eine neue Welle von Hartz-IV-Klagen auf die Sozialgerichtsbarkeit zurollt. „Bisherige Regelleistungen sollen künftig Ermessensentscheidungen werden. Diese sind  schwieriger. Und es wird streitanfälliger.“ Nötig sei eine bessere Qualifizierung der Mitarbeiter der Job-Center, sagte Paulat. Sie unterstützte den Vorstoß der Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) für eine Vereinfachung der „vermurksten“ Hartz-IV-Gesetze. Schon jetzt sei es für die Sozialgerichte, sagte Paulat, ein „Tanz auf der Rasierklinge.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })