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Brandenburg: Verwirrt im goldenen Oktober
Kraniche und Wildgänse sind irritiert: Sie finden es zu warm, um abzureisen, und vergessen, sich ihre Fettpolster anzufressen. Die Tiere ziehen sogar tagsüber ihre Bahnen am Himmel – ein Glück für Vogelkundler.
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Linum – Den Besuchern des Storchendorfes Linum im Rhinluch, im Landkreis Ostprignitz-Ruppin, bietet sich derzeit ein einzigartiges Naturschauspiel. Das ungewöhnlich milde Herbstwetter bringt den eigentlich streng geordneten Tagesrhythmus der Kraniche völlig durcheinander. Denn normalerweise lassen sich die „Vögel des Glücks“ nur in der Dämmerung am Himmel beobachten. Früh am Morgen fliegen sie von ihren Schlafplätzen in den flachen Teichen auf die nahen Maisfelder, um am Ende des Tages noch weithin sichtbar zurückzukehren. „Die spielen in der Wärme und in der Sonne jetzt völlig verrückt“, sagt Marion Szindlowski vom Naturschutzbund Deutschlands (Nabu), der derzeit in der Linumer Storchenschmiede eine Ausstellung über Kraniche zeigt. „Der Himmel ist den ganzen Tag über voller Kraniche und Wildgänse, die aufgeregt hin- und herfliegen“, sagt Szindlowski.
Die Zugvögel denken momentan noch gar nicht daran, sich eine Fettreserve für den Weiterflug in Richtung Süden anzufressen. Im schönsten Sonnenlicht könnten jetzt sogar Laien wunderbare Aufnahmen machen, denn die Kraniche fliegen ganz dicht über die Köpfe der Besucher hinweg. Wildgänse finden sich ebenfalls zum Sonnenbad ein und verschieben die Nahrungsaufnahme erstmal.
„Solch ein Naturphänomen hat es noch nie im Linumer Kranichgebiet gegeben“, erklärt Marion Szindlowski. „Wir bieten gewöhnlich nur Führungen in der Dämmerung an und sind jetzt den ganzen Tag über auf den Beinen.“ Selbst die übliche Fluchtdistanz von 300 bis 500 Metern wird bei der großen Wärme nicht eingehalten. Die sonst so scheuen Kraniche lassen die Menschen viel näher an sich heran.
Derzeit halten sich nach einer aktuellen Zählung schon rund 60 000 Vögel in Deutschlands größtem Kranichrevier auf. Im Vergleich dazu werden in ganz Mecklenburg-Vorpommern „nur“ 55 000 Tiere gezählt. „Inzwischen könnten es bei uns schon 80 000 Vögel sein“, vermutet die Nabu-Expertin. „Für die Tiere gebe es ja keinen Grund, schnell das angenehme Revier zu verlassen. Normalerweise bleiben die Vögel nur drei Tage bis drei Wochen in einem Fressgebiet. Die nächste Zählung nehmen mehrere Dutzend freiwillige Helfer am frühen Dienstagmorgen vor.
Die starke Zunahme der Kranichpopulation ist auch ohne den aktuellen Wärmeschub enorm. Im Jahre 1912 kam ein Wissenschaftler voller Stolz an einem Herbsttag auf 1400 bis 1500 Tiere. Im Jahr 1997 meldeten die PNN in einer Schlagzeile die „Rekordzahl von 27 000 Kranichen“. Damals stand diese Art sogar noch auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tiere.
Die Gefahr ist längst gebannt, sparen sich doch viele Kraniche inzwischen sogar den Flug nach Frankreich, Spanien oder Afrika. Sie bleiben das ganze Jahr über in Brandenburg und leben und brüten etwa in Wäldern im Landkreis Oberhavel. Steigende Zuwachsraten vermelden neben dem Linumer Teichgebiet aber auch der Nationalpark Unteres Odertal, der Niederlausitzer Landrücken und der Spreewald.
Die Gründe dafür liegen ausschließlich beim Menschen. Durch den starken Zuwachs an Maisfeldern hat sich das Nahrungsangebot erheblich vergrößert. In Linum werden die Teiche vor jeder Kranichsaison auf höchsten 20 bis 30 Zentimeter abgesenkt, damit sich die Vögel hier vor Füchsen und anderen Feinden sicher fühlen können. So steht einem geruhsamen Schlaf auf einem Beim nichts im Wege, zumal einige Wachposten stets vor einer möglichen Gefahr warnen.
Die Kraniche danken dem Menschen so viel Fürsorge mit lauten Trompetenrufen am Himmel und Formationen mit voller Flügelspannweite: Die beträgt immerhin 2,20 Meter.
Weitere Informationen zu Vorträgen und Führungen in Linum unter www.berlin.nabu.de
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