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Ehemalige DDR-Heimkinder: Von Potsdam ins Spezialheim

Seit einem Jahr gibt es eine Beratungsstelle für frühere DDR-Heimkinder in Potsdam. Doch viele Betroffene haben längst jedes Vertrauen in den Rechtsstaat verloren.

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Potsdam - Schon in der Schule, mit 14 Jahren, wurde er politisch aussortiert. In seinem Zeugnis stand: „Lutz ist ein Feind unserer Arbeiter- und Bauernmacht.“ Oder: „Gesellschaftlich steht Lutz dem Staat nicht positiv gegenüber.“ Lutz Adler wohnte damals, in Potsdam in der Schlaatzstraße, sein Vater war Hauptmann bei der DDR-Volkspolizei. Doch der Junge wollte nicht Pionier werden, hörte den Soldatensender der Amerikaner. Schließlich entschied die Jugendbehörde im Jahr 1968, dass die Eltern aus ihm keine „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“ formen könnten. Lutz Adler kam für fast zwei Jahre in eines der berüchtigten Spezialkinderheime der DDR. Noch heute leidet der 58-Jährige unter den Spätfolgen. Rehabilitiert wird er nicht, Entschädigung Fehlanzeige.

Wie Lutz Adler ergeht es unzähligen anderen früheren Insassen von DDR-Kinderheimen. Um sie kümmert sich seit einem Jahr die Anlauf- und Beratungsstelle bei der Landesbeauftragten für die Aufklärung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Potsdam, Ulrike Poppe. Sie soll Betroffenen helfen, Zahlungen und Sachleistungen aus dem Entschädigungsfonds für Heimerziehung zu bekommen. Doch so einfach ist das nicht, sagt Lutz Adler. „Wir wollen rehabilitiert werden.“

Justiz und Gesetzgeber sehen das anders. Am 5. Oktober 2011 beschloss das Landgericht Potsdam, den Antrag von Lutz Adler auf strafrechtliche Rehabilitierung abzulehnen. Die Voraussetzungen fehlten. Diese seien nur erfüllt, wenn die gerichtliche oder behördliche Entscheidung in der DDR der „politischen Verfolgung gedient hat oder die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu der zugrunde liegenden Tat stehen“. Es sei nicht erkennbar, dass bei der Einweisung von Lutz Adler dessen politische Verfolgung oder Disziplinierung beabsichtigt war, heißt es im Gerichtsbeschluss.

Lutz Adler lässt das am Rechtsstaat zweifeln. Tatsächlich sind die Gerichte in ganz Deutschland bei Rehabilitierungsentscheidungen zurückhaltend. Es reicht nicht einmal für die Annahme einer politischen Verfolgung zu DDR-Zeiten, dass mit der Heim-Unterbringung eine politisch-ideologische Erziehung im Sinne der Staatsmacht bezweckt war. Lediglich wer im berüchtigten Jugendwerkhof inhaftiert war, wo es systematisch zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam, wird ohne Prüfung rehabilitiert.

Hinzu kommt die restriktiv gehandhabte Nachweispflicht. Adler konnte dem Landgericht nicht viel vorlegen: Er schilderte, was damals geschah, legte eine eidesstaatliche Erklärung ab – und die alten Schulzeugnisse vor. Mehr hat er nicht. Mehr Unterlagen gibt es nicht. Dass er überhaupt in dem Spezialkinderheim war, kann der heute 58-Jährige nur anhand seiner Schulzzeugnisse aus dieser Zeit nachweisen. Dem Gericht reicht das nicht. Für Adler ging es um 306 Euro Opferentschädigungsrente im Monat, die jeder bekommen soll, der mindestens sechs Monate oder 180 Tage in politischer Haft war.

Adler war insgesamt 22 Monate in dem Spezialheim Kehnert. Es gab zwar eine Schule, aber meistens arbeiteten sie für die LPG. Was Adler berichtet, ist brutal: „Mit Tritten und Schlägen bekam ich von den Mitinsassen, die sich Zimmerdienste und Tischdienste nannten, die Regeln schnell erklärt. Ich wurde bis zu Bewusstlosigkeit zusammengedroschen. Jeder Erzieher hatte so seine bestimmten Leute, seinen Kapo, der in seinem Auftrage für Ruhe sorgte.“ Er erlebte mehrere Selbstmordversuche von Mitinsassen. „Einer hat sich im Schweinestall erhängt, weil er monatelang dransaliert wurde.“ Für eine dumme Antwort im Unterricht gab es schnell drei Tage Arrestzelle. Bei geringsten Anlässen wurde er nachts aus dem Bett geholt, musste stundenlang barfuß im Nachthemd in der Eingangshalle stehen. Im Winter sorgte der Wächter für Durchzug. „Das war Folter. Bis heute spüre ich diese Kälte“, sagte Adler. „Ich kann in kein Fußballstadion gehen, kein Konzert besuchen. Wenn zu viele Menschen um mich herum sind, wird mir unbehaglich. In die Gaststätte kann ich auch nicht, ich kann nicht abwarten, bis alle ihr Essen haben. Denn ich habe noch heute Angst, dass mir jemand meins wegnimmt.“

So wie Lutz Adler geht es Unzähligen; mehr als 400 000 Kinder wurden in den DDR-Jugendheimen teils grausam drangsaliert. Eine Entschädigung für ihr Leid bekommen sie nicht. Deshalb hatten das Bundeskabinett und die Ostländern im Juni 2012 einen Opferfond in Höhe von 40 Millionen Euro eingerichtet – als eine Art Entschuldigung. Damit sollen Therapien, Beratungen, Rentenersatzleistungen oder Hilfen wie eine Wohnungseinrichtung oder ein Rollator bezahlt werden.

Lutz Adler lehnt das ab. Er müsste sich wie beim Sozialamt „nackig machen“, wie er sagt. Und nach all den Erfahrungen ist sein Misstrauen ist groß, auch gegenüber Ulrike Poppe, der Aufarbeitungsbeauftragten. Die hatte sich 2011 offenbart, in den 1970er-Jahren selbst eine sogenannte Zuführerein in einem DDR-Heim gewesen zu sein, die Jugendliche auch in den Jugendwerkhof nach Torgau brachte. Dass Poppe durch diese Erfahrungen auch in die Opposition ging, gegen die SED-Diktatur aufbegehrte und sich 2012 um die Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in ihrem Haus kümmerte – das kommt bei Lutz Adler nicht mehr an. Er hat sein Vetrauen verloren – damals in der DDR und heute vor Gericht.Alexander Fröhlich

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