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Brandenburg: Was Unrecht ist

Gewalt, Isolation, ein Leben wie im Gefängnis. Insassen des Durchgangsheimes Bad Freienwalde erlitten in der DDR schreckliches Leid. Strafrechtlich rehabilitiert werden sie nicht. Ihre Anträge werden systematisch abgelehnt. Nun wehren sie sich – mit Protest und mithilfe des Bundesverfassungsgerichtes

Stand:

In seinem Wohnzimmer hängen Knastriegel und Schlüsselbund an der Wand. In seinem Keller steht ein „Leo“, ein Kübel, der in der Zelle für die Notdurft benutzt wurde. Sogar ein originales Stück Stacheldraht aus dem Kindergefängnis Bad Freienwalde hat er. Wie ein Lasso hält Roland Hermann, Cowboy-Hut und Lederweste, die traurige Trophäe in der Hand. Der Stacheldraht ist mittlerweile verrostet – die Erinnerungen an die schlimmste Zeit seines Lebens sind es nicht. An die Zeit im Durchgangsheim Bad Freienwalde. Noch immer kämpfen er und andere frühere Insassen wie Cornelia Kurtz und Norda Krauel um ihre strafrechtliche Rehabilitierung. Es sind drei exemplarische Schicksale – und sie sind erschütternd. Vor allem wegen der Zustände in den DDR-Kinderheimen, wegen der systematischen Menschenrechtsverletzung, aber auch weil der Rechtsstaat bislang völlig versagt hat, das alles anzuerkennen.

Roland ist ein abgeschobenes Kind, von der Geburt, im Mai 1965, an. Seine Mutter bringt ihn die ersten zwei Jahre seines Lebens in eine Wochenkrippe. So muss sie ihn nur am Wochenende betreuen. Die Ehe der Eltern geht in die Brüche, sie lassen sich 1973 scheiden. Als Roland zehn Jahre alt ist, heiratet die Mutter erneut. Der Stiefvater ignoriert ihn. Der überzeugte SED-Genosse und Direktor für Kader und Bildung will mit einem Jungen, der nur Ärger macht, nichts zu tun haben. Bald gibt es ein neues Kind in der Familie.

„Roland erscheint abgestempelt und abgelehnt von den Eltern und geht bewusst in Opposition“, heißt es in der Akte der Jugendhilfe. Der Junge beginnt die Schule zu schwänzen, die Enttäuschung eines Kindes, dem Liebe und Anerkennung verwehrt werden, entlädt sich in Wutanfällen. Die Mutter schließt das Wohnzimmer ab, damit ihr Sohn es nicht mehr betreten kann – aus Angst, er würde sie beklauen. Der Stiefvater verbietet ihm das Westfernsehen. Die Jugendhilfe macht Hausbesuche, legt eine Akte an und beschließt schließlich – auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter – von einem Tag auf den nächsten die Heimeinweisung. Doch einen Heimplatz gibt es nicht von heute auf morgen. Dafür eine Art Zwischenstation – das Durchgangsheim Bad Freienwalde. Es ist ein Knast. Und für die meisten kein Heim für den Durchgang, sondern von Dauer.

Mit Gittern vor den Fenstern, einer hohen Mauer mit Glasscherben, Stacheldraht und jeder Menge Einzelzellen für die widerspenstige Brut. 1968 wurde das ehemalige Kreisgerichtsgefängnis, das auch in der NS-Zeit schon als Knast diente, an die Jugendhilfe übergeben. Bauliche Veränderungen gab es keine. Für den 14-Jährigen ist es eine Einweisung in die Hölle.

Er muss sich vollständig ausziehen, duschen, alles Private wird ihm abgenommen. Die Anstaltskleidung sieht aus wie „aus dem Lumpensack“. Nichts passt und nichts passt zusammen. Es folgen drei Tage Einzelhaft. Jeder Neuzugang wird hier auf diese Art begrüßt. In der Zelle gibt es nur eine Holzpritsche, die tagsüber hockgeklappt wird, einen Stuhl und einen Eimer für die Notdurft.

Niemand spricht mit dem Jungen, erklärt ihm etwas. Fragen sind nicht erlaubt. „Ich hab mich beschissen gefühlt, geheult, die Welt nicht mehr verstanden“, sagt Roland Herrmann. Die Welt besteht jetzt aus Gittern: Gitter vor den Fenstern und sogar ein Gitter vor der Tür. Der Arrest dient als beliebte Strafmaßnahme. Zelle 5 bedeutete Einzelhaft. Herrmann landet oft in Zelle 5. Selbst Elfjährige werden etwa wegen „Diebstahl von Zigaretten“ in die Einzelhaft gesteckt, wie in einem erhaltenen Arrestbuch nachzulesen ist. Die Vorgaben des Ministeriums für Volksbildung zur Höchstdauer des Arrestes und den Altersgrenzen werden nicht eingehalten.

Wenn Roland Herrmann nicht im Arrest sitzt, muss er arbeiten, Lampenbuchsen zusammenschrauben. „Die waren so scharfkantig, dass man sich da ganz schnell die Finger aufgerissen hat.“ Sogar die Elf- und Zwölfjährigen müssen arbeiten. „Wenn die Jüngeren die Norm nicht schafften, haben wir Älteren versucht zu helfen“, sagt Roland. „Es gab Solidarität untereinander. Aber natürlich prügelte man sich auch gelegentlich.“ In solchen Fällen gibt es Kollektivstrafe: Entengang oder Liegestütze im Treppenhaus für die Gruppe. Auf den Stufen müssen die Füße höher sein als der Kopf. Wer nicht pariert, bekommt den Schlüsselbund ins Kreuz. Über ein halbes Jahr muss er hier verbringen. Die seelischen Wunden bleiben lebenslänglich.

Urlaub ist nicht vorgesehen. Auch keine Ferien. Für die Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen drei und 18 Jahren gestaltet sich im Heim ein Tag wie der andere. Er beginnt sehr früh am Morgen mit dem Befehl: „Aufstehen!“ Der „Leo“, der Kübel für die Notdurft, muss im Waschraum entleert und gesäubert werden. Wenn sich wenig später die minderjährigen Insassen waschen, steht oft ein Erzieher daneben und sieht zu. Zum Frühstück gibt es Stullen mit Marmelade. Nach dem Frühsport geht es zur Arbeit. Der triste Alltag wird nur unterbrochen vom gelegentlichen Hofgang: eine halbe Stunde pro Tag. Am Abend wird die Aktuelle Kamera geschaut und die Jugendlichen müssen das Gehörte aufsagen. Zu essen gibt es in der Einzelzelle nur versalzene Schmalzstullen, dazu einen Becher Tee. „Man hatte immer Durst da drin“, erinnert sich Roland.

Schon für geringste Verfehlungen gibt es Strafen: Essensentzug. Prügel. Arrest. Zwei von drei Erziehern sind Sadisten, bestrafen für jede Kleinigkeit, brüllen, verteilen „Arschtritte“, werfen Schlüssel. Ein anderer ist Alkoholiker, ein wegen seiner Sucht strafversetzter Lehrer, bei dem gab es keinen Arrest, ein Seelentröster.

Irgendwann kommt sie, die Gelegenheit zur Flucht: Die Jugendlichen sind allein auf dem Hof. Die Kisten mit den Lampen stehen zum Abholen bereit. Roland und die anderen stellen sie an die fünf Meter hohe Gefängnisschleuse. Sie fliehen zu zweit. Die anderen halten dicht. Niemand verrät sie. Als die Erzieher es bemerken, bekommen alle Insassen Arrest zur Strafe.

Roland ist in Bungalows eingebrochen, hat Essen und Kleidung geklaut. Nach drei Tagen geben die beiden auf. „Ich hab einfach gehofft, ich komme in einen richtigen Knast, nicht mehr nach Bad Freienwalde.“ Doch Roland wird zurückgeschafft in das Durchgangsheim. Und wird verurteilt zu einem Jahr Jugendhaft. Nach der U-Haft in Frankfurt (Oder) kommt er in das Jugendhaus „Frohe Zukunft“ nach Halle. Bei der Entlassung ist er 16, aber die Zukunft weigert sich immer noch, froh zu werden. In der Schule gibt es bald den nächsten Ärger. Zum Tode des Regimekritikers Robert Havemann trägt Roland einen Trauerflor und ein schwarzes Jackett. Als er vom Staatsbürgerkunde-Lehrer und vom Direktor aufgefordert wird, das schwarze Band mit der weißen Aufschrift Havemann und einem Kreuz über dem Namen abzunehmen, weigert er sich. Die Stasi wartet schon im Heim auf ihn. Aber Roland ahnt etwas und haut ab. Sein Instinkt trügt ihn nicht. Der erneute Einweisungsbeschluss in das Durchgangsheim Bad Freienwalde ist schon gefasst. Er haut wieder ab und kommt bis zu seinem 18. Lebensjahr in den Jugendwerkhof Freital.

Oder Cornelia Kurtz, geboren 1960 in Eberswalde. Sie ist eines von sieben Kindern. Nach der Trennung ihrer Eltern wird sie, zusammen mit einem Bruder, zum Vater „abgeschoben“, wie sie sagt. Da ist sie fünf Jahre alt, der Bruder vier. Der Vater ist außerordentlich streng. Er verbietet sogar den Kontakt zu den Geschwistern, die bei der Mutter leben. „Eigentlich hat der alles verboten.“ Die Kinder stören. Als Cornelia älter ist, besucht sie die Familie ihrer Mutter heimlich. Mit katastrophalen Folgen: Mit elf wird sie vom Stiefvater vergewaltigt. Reden kann sie mit niemandem.

Im März 1976, da ist sie 16, wird sie von heute auf morgen aus der zehnten Klasse herausgenommen und in das Durchgangsheim Bad Freienwalde eingewiesen. Warum, weiß sie nicht. Der Vater ist es, der sie beim Jugendamt abliefert. Eine Frau von der Jugendhilfe und ein Fahrer bringen sie ins Durchgangsheim. Als Erstes sieht sie das graue Knasttor. Alles andere verschwimmt vor ihrem Blick. „Ich hab einfach nur noch geheult.“ Dann erklingt ein Befehl: „Mitkommen!“ Das Mädchen gehorcht mechanisch. Es muss in einem Vorraum warten. In einer Kleiderkammer wird sie gezwungen, alles Persönliche abzugeben. Auch die Kleidung. Sie bekommt „Heimschlüpfer wie von Omas“. Ihr wird gesagt, dass das Volkseigentum sei und sie es nicht beschädigen dürfe.

Eine Erzieherin führt die Neue schweigend die Treppe hinauf. Auf dem Dachboden soll sie sich ausziehen. Auch ein Mann ist dort. Erklärt wird dem Mädchen nichts; auch bei ihm werden nur Befehle erteilt. Der Mann, angeblich ein Doktor, untersucht alle Körperöffnungen. Sie fühlt sich hilflos, gedemütigt, ausgeliefert. Danach sieht sie den Arzt nie wieder. Die gynäkologische Zwangsuntersuchung hat Folgen für das Leben von Cornelia. Sie hat noch heute Angst, zu Ärzten zu gehen. Jahrelang mied sie einen Besuch beim Gynäkologen. An einer Eileiterschwangerschaft wäre sie beinahe gestorben; erst im letzten Moment landete sie im Krankenhaus.

Die ersten Tage in Bad Freienwalde verbringt sie in einer Arrestzelle im Mädchentrakt. „Die Zelle ganz hinten“, erinnert sie sich. Wenn sie in den Waschraum geführt wird, steht der Erzieher an der Tür und sieht ihr zu. Aber auch als sie „auf Gruppe kommt“, wird das Leben dort nicht einfacher. Im Gegenteil. Eine Mitinsassin schneidet ihr die Haare ab. „Einfach aus Schikane. Weil sie die Stärkste war.“ Die Neue soll sehen, wer hier das Sagen hat. Eine Leidensgenossin warnt sie: „Pass auf, du sollst Kloppe kriegen.“ Cornelia verbringt noch eine Nacht in der Arrestzelle und die Gruppe greift sich das Mädchen, das sie gewarnt hat. „Ach, die Veilchen blühen auch schon“, sagt die Erzieherin am nächsten Morgen munter, als sie die Spuren der Schläge sieht.

Kein Erbarmen. Kein Zeichen von Mitleid. Wo ist sie hier? Und vor allem warum? Wie lange muss sie bleiben? Fragen dürfen nicht gestellt werden.

Die Schikanen in der Gruppe hören nicht auf. Conny muss die Drecksarbeit für die anderen machen. So wird sie dazu verdonnert, die Hygieneartikel, die Monatsbinden, in den Öfen zu verbrennen. In den Gemeinschaftszellen haben die Stubenältesten das Sagen, die, die schon länger da sind. Nachts sitzt sie auf dem Eimer für die Notdurft und schiebt Wache. Damit die anderen beim Quatschen nicht erwischt werden. Conny bekommt keinen Besuch, keine Briefe und keinen Ausgang. Einmal am Tag darf sie auf den Hof.

Ansonsten sitzt sie stundenlang an einer Werkbank, auch sie schraubt Lampenfassungen zusammen. Es wird im Akkord gearbeitet, eine Norm muss erfüllt werden. Die Jüngeren ab neun Jahren häkeln und stricken. Nach der Arbeit geht es zum Sport auf den Hof: Entengang, Kniebeuge, Liegestütze, Strecksprünge. Frau L., die Erzieherin, ist noch jung. Sie triezt die Mädchen, brüllt und treibt sie mit der Trillerpfeife an. Sich anpassen und funktionieren ist das, was hier erwartet wird. Die Persönlichkeit interessiert nicht, sie stört. Etwas, das gebrochen werden muss.

Cornelia beginnt in Bad Freienwalde zu hassen. Zuallererst ihren Vater, der sie hergebracht hat. Dann soll sie in einen Jugendwerkhof. Bei der Abfahrt dreht sie sich nicht um. Wenn ich zurückblicke, komm ich irgendwann wieder rein, denkt sie.

„Es waren keine haftähnlichen Bedingungen, es war Haft“, sagt Norda Krauel über ihre Zeit in Bad Freienwalde. Von der Mutter abgelehnt, nach frühen traumatischen Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, landet sie mit 16 Jahren im „Tor zur Hölle“, wie sie es nennt. Stundenlang muss sie an der Wand strammstehen, bevor sie in die Zelle gesperrt wird. Ein verblichener gelber Punkt auf dem Boden wird hier zum Zentrum des Gefangenseins: Drei Tage lang steht sie dort. Sie ist durstig und trinkt den Becher Tee schnell aus, dann erst isst sie die versalzene Schmalzstulle. Nun hat sie noch mehr Durst. „Jetzt hast du Zeit zu überlegen, warum du hier gelandet bist“, wird ihr gesagt. Aber Norda kommt nicht drauf. Sie hat nur Durst.

Als sie in die Gruppe eingewiesen wird, beginnt der Kampf um die Rangordnung. Prügeleien sind so normal wie das Riegelknallen am frühen Morgen. Die Brille wurde ihr als mögliche Waffe weggenommen. Bei der Arbeit am Band und dem Montieren von Lampen bekommt sie deshalb Migräne. Ein Ausbruchsversuch eskaliert in verzweifelter Gewalt. Ihr einziger Halt in dieser Zeit ist ein vierjähriger Junge, der nicht spricht. Er ist so schmal, dass er durch die Gitter zwischen den Etagen passt. Irgendwann hebt er die Arme, will auf den Arm. Norda hat Angst, bei dem verbotenen Kontakt erwischt zu werden. Doch der Kleine kommt immer wieder zu ihr. Irgendwann sagt er auch etwas – einen einzigen Satz: „Du könntest eigentlich auch meine Mutti sein.“

Wenn sie heute davon erzählt, schnürt es ihr immer noch die Kehle zu. „Die kleinen Kinder dort, das war das Schlimmste. Die konnten doch gar nicht verstehen, was da passierte.“

All die Insassen des Durchgangsheimes, Roland Herrmann, Cornelia Kurtz, Norda Krauel und viele andere, haben ihre strafrechtliche Rehabilitierung beantragt. Sie möchten, dass anerkannt wird, dass ihnen Unrecht geschah. Die Begehren, wie es im juristischen Amtsdeutsch heißt, wurden am Landgericht Frankfurt (Oder) von der Kammer für Rehabilitierungsverfahren stets zurückgewiesen. In einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft heißt es: „Zwar kann nicht verkannt werden, dass die Unterbringung in den Institutionen für die Betroffenen ohne Frage aufgrund der sicherlich strengen Führung und des rückständigen Standards eine gewisse Härte bedeuteten. Eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte, die eine Rehabilitierung nahelegen würden, kann aber hierin nicht gesehen werden.“ Die Erziehungsmaßnahmen müssten als das damals als normal Akzeptierte gesehen werden und seien nicht politisch motiviert. Dass die persönliche Freiheit der Betroffenen beschränkt war, „hat ebenfalls nicht mit politischer Verfolgung zu tun, sondern liegt in der Natur der Sache“.

Selbst ein Bericht der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der SED- Diktatur über die Zustände in Bad Freienwalde und das Heimsystem in der DDR beeindruckte die Gerichte nicht. Ganz im Gegenteil: Es gab keinerlei Reaktion. Petra Morawe, die bei der Landesbeauftragten tätig ist und Opfer der DDR-Heime berät, kann in gewisser Weise die Reaktion der Richter sogar nachvollziehen. Lange Jahre nach der Wiedervereinigung fielen DDR-Heimkinder durch das Raster bei der strafrechtlichen Rehabilitierung. Beim berüchtigten Jugendwerkhof in Torgau schwenkten die Gerichte schließlich um. Auch der Gesetzgeber besserte nach. Nach der Reform des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes werden „Rechtsstaatswidrige Entscheidungen über Freiheitsentzug außerhalb eines Strafverfahrens“ und haftähnliche Bedingungen für Kinder und Jugendliche in der DDR nicht mehr nur dann rehabilitiert, wenn sie der politischen Verfolgung dienten, sondern auch sachfremden Zwecken.

Eine schwammige Formulierung, findet Morawe. Sie glaubt, dass die Gerichte sich damit schwertun und deshalb äußerst streng prüfen. Sonst könnte ja jeder kommen und seinen Heimaufenthalt als sachfremd darstellen. Aber die Heimunterbringung in Bad Freienwalde hatte nichts mit „Fürsorgepflicht des Staates“ und dem Kindeswohl zu tun, sagt Morawe. „Sie war also sachfremd.“

Was Morawe nicht versteht: dass die Gerichte die Betroffenen nicht einmal anhören. Erst im Januar hatte das Landesverfassungsgericht diese Praxis gerügt, weil vor dem Landgericht Potsdam und dem Oberlandesgericht bei Klagen eines SED-Opfers „das Grundrecht auf rechtliches Gehör“, wirksamen Rechtsschutz und Gleichheit vor dem Gesetz verletzt wurde. Die Gerichte hätten die Landesverfassung „gleich in mehrfacher Hinsicht“ missachtet. Und zwar indem sie Einwände „nicht zur Kenntnis genommen“, umfangreiche Erklärungen und eine Stellungnahme von Brandenburgs Aufklärungsbeauftragter gar nicht berücksichtigt hatten. Die Enquetekommission des brandenburgischen Landtags zur Aufarbeitung der Nachwendejahre empfiehlt in ihrem Abschlussbericht, Betroffenen in Rehabilitierungsverfahren mehr Mitwirkung und stets eine Anhörung zu ermöglichen. Sie sollen außerdem Zeugen und Sachverständige benennen können. Passiert ist nichts.

Die fehlende Anhörung ist das formal- rechtliche Problem. Es trifft die früheren Heiminsassen schwer, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen, weil sie sich nicht erklären können vor einem Richter, sagt Morawe. Es gehe nicht ums Geld, durch den DDR-Heimkinderfonds werden auch sie unterstützt. Die Feststellung, rehabilitiert zu werden, weil ihnen Unrecht angetan wurde, ist etwas anderes. Und dafür gibt es eine Entschädigung. 306,78 Euro für jeden angefangenen Monat in Haft.

Das andere, das inhaltliche Problem ist die Einsicht in das System der Heimerziehung in der DDR. Es ging darum „die als abweichend bezeichneten Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen in einem Prozess kollektiver Erziehung zu korrigieren“, sagt sie. „Sie sollten unter haftähnlichen Bedingungen und mit einem Strafsystem lernen, sich anzupassen und sich im Sinne des Systems unterzuordnen.“ Man könne auch sagen, die Persönlichkeit sollte gebrochen werden. Und das alles zentral gesteuert, also politisch gewollt. Wer nicht dem Ideal des sozialistischen Bürgers entsprach, „sollte mit besonderem Drill, mit Isolationen hingebogen werden, damit er zumindest funktioniert und Hilfsarbeiter werden kann“.

Durch die Zwangsarbeit für den VEB Schiffarmaturen und Leuchtenbau Eberswalde-Finow nahm das Heim 20 000 DDR-Mark allein 1979 ein, sagt Morawe. Lohn und Taschengeld gab es nicht, die Jugendliche haben die Kosten ihrer Haft quasi selbst erwirtschaftet. Nur einen Tag in der Woche gab es Berufsschulunterricht in Staatsbürgerkunde, Deutsch und Mathematik – mit lebenslangen Folgen. Höhere Schulabschlüsse oder eine Ausbildung blieben ihnen später deshalb versagt.

Nur die Gerichte finden das alles nicht Unrecht genug, um die Insassen zu rehabilitieren. Norda Krauel will sich nicht damit abfinden. Sie hat schon 2011 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Und sie hat einen ersten Erfolg: Karlsruhe hält die Beschwerde offenbar für begründet, hat beim brandenburgischen Justizministerium eine Stellungnahme angefordert und eine Frist bis 15. August gesetzt. Am kommenden Mittwoch wollen frühere Insassen des Durchgangsheims vor das Justizministerium ziehen und demonstrieren, mittags wird der Protest vor dem Landtag fortgesetzt. Angemeldet sind 25 Teilnehmer. Das Justizministerium wollte das alles nicht kommentieren, das sei auch nicht überlich bei personengebundenen Verfahren.

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