Brandenburg: „Wir sind sozusagen explodiert“
Sechs Jahre nach Start von Hartz IV reißt die Klageflut an den Sozialgerichten nicht ab / In Potsdam tagt der Deutsche Sozialgerichtstag
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Potsdam - Die Zahl der Arbeitslosen ist 2010 zwar erstmals wieder gesunken – aber der Hartz-IV-Klageansturm auf Brandenburgs Sozialgerichte reißt trotzdem nicht ab. „Wir sind sozusagen explodiert“, beschreibt Monika Paulat, die Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg die Entwicklung an den Sozialgerichten seit der Einführung der Hartz-Gesetze vor beinahe sechs Jahren. Berlin-Brandenburg habe im Bundesvergleich der Klagezahlen gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen „immer an der Spitze gelegen“.
Am Sozialgericht Frankfurt (Oder) haben sich aktuell die Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr sogar um 19 Prozent erhöht. 3500 der insgesamt in diesem Jahr eingegangenen rund 6000 Klagen betreffen Hartz-Sozialleistungen, wie Gerichtsdirektor Michael Grunau den PNN sagte. Damit muss das Gericht fast doppelt so viele Hartz-Klagen wie 2006, im Jahr nach der Einführung der Hartz-Gesetze, bearbeiten: Damals habe die Zahl bei 1800 gelegen. Vor dem Hintergrund der zeitgleich abnehmenden Bevölkerung spricht Grunau von einer „dramatischen Zunahme“.
Ähnlich auch die Lage beim Sozialgericht Cottbus: Hier haben die Richter aktuell gut 250 Hartz-IV-Fälle mehr als im Vorjahr abzuarbeiten, wie Sprecher Klaus Westerberg sagte. Von den insgesamt 3525 bis Ende Oktober 2010 eingegangenen Fällen betrifft mehr als die Hälfte, 1877, Hartz IV. Im ersten Hartz-IV-Jahr habe es dagegen nur 706 Klagen gegeben. Die Zahl der eingegangenen Klagen sei über die Jahre „kontinuierlich massiv gestiegen“, so Westerberg. Vor den Richtern liege aktuell ein Berg von 5970 Verfahren – Fälle von „einstweiligem Rechtsschutz“, also Sofort-Entscheidungen wie etwa bei einstweiligen Verfügungen, nicht mitgerechnet.
Die Hartz-Gesetze treiben offenbar aber nicht nur Hartz-IV-Empfänger vor die Gerichte, wie die Cottbuser Richter festgestellt haben: Auch im Bereich Rentenrecht gibt es mehr Kläger. „Die Leute versuchen, auf anderen Wegen ins soziale Netz zu kommen, um nicht in Hartz IV zu rutschen“, vermutet Westerberg. So gebe es beispielsweise vermehrt Fälle, bei denen es um Erwerbsminderungsrenten oder eine frühere Verrentung wegen Schwerbehinderung geht. Westerberg beziffert den Zuwachs dieser Klagen um 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Auch in Neuruppin wächst der Klageberg seit sechs Jahren kontinuierlich mit rund 20 Prozent pro Jahr, erklärte Wolfgang Jüngst, Richter und Sprecher des Sozialgerichtes. Bis Ende Oktober dieses Jahres waren dort 4547 Verfahren anhängig, davon knapp die Hälfte, 2046, zur Grundsicherung. Zwei Jahre müssen die Hartz-IV-Kläger hier im Durchschnitt auf eine Entscheidung warten.
In Potsdam hat sich die Zahl der Klagen zumindest „auf anhaltend hohem Niveau stabilisiert“ und liegt bei rund 7000 neuen Verfahren in diesem Jahr, davon 60 Prozent Hartz-IV-Klagen, sagte Richter und Gerichtssprecher Moritz Bröder. Gleichzeitig müssen die Potsdamer Sozialrichter einen Berg von fast 9900 anhängigen Verfahren abarbeiten. Für das kommende Jahr rechne man wieder mit steigenden Fallzahlen. Der Grund: ab Januar treten gesetzliche Neuregelungen im Bereich der Grundsicherung in Kraft.
Einen erneuten Anstieg im kommenden Jahr befürchtet auch Landessozialgerichtspräsidentin Monika Paulat: die geänderten Hartz-IV-Regeln enthielten nach wie vor „unbestimmte Rechtsbegriffe“, erklärt sie. Auch sechs Jahre nach Start von Hartz IV gebe es „keine Aussicht, dass sich die Lage an den Gerichten eklatant verbessern wird“.
Immerhin haben Brandenburgs Sozialgerichte seitdem zusätzliches Personal bekommen: Seit 2005 seien insgesamt 27 Richterstellen neu geschaffen worden, allein 2010 wurden sechs neue Proberichter eingestellt, Anfang 2011 kommen sieben weitere hinzu. Die Zuwächse seien zwar „gediegen“, aber sie sei „sehr froh darüber“, betonte Monika Paulat.
Wie die Belastung der Sozialgerichte in Zukunft verringert werden kann, ist auch Thema beim 3. Deutschen Sozialgerichtstag, der am heutigen Donnerstag in Potsdam eröffnet wird. Zu dem Fachtreffen werden 330 Teilnehmer erwartet, darunter nicht nur Richter, sondern auch Rechtsanwälte, Mediziner, Sozialarbeiter oder Wissenschaftler.
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