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Die Bühne als Spielfläche: Das Kunsthappening „Bilder einer Ausstellung“ im Nikolaisaal.

© Andreas Klaer

Flüchtiger Farbrausch in Potsdam: Riesiges Gemälde wird für den guten Zweck zerschnitten

Zwischen Schlagwerk und Klavier, Gershwin und Mussorgski: Bei einem Happening im Nikolaisaal entsteht ein Gemeinschaftskunstwerk, das nicht lange so bleiben darf.

Von Alicia Rust

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Als die fünf Künstler an den Rand der sogenannten Bühne treten, ebbt der Geräuschpegel augenblicklich ab. Die Aufmerksamkeit des Publikums richtet sich nun auf die Mitte des Foyers. Der Boden ist von einem acht mal acht Meter großen Papierbogen bedeckt. Eine Projektionsfläche für das, was in den kommenden 90 Minuten geschehen soll. Der Rand ist sorgfältig mit Malerfilz ausgelegt. Schließlich soll niemand auf das Kunstwerk treten, wenn es nach Abschluss der Performance vollendet ist.

Die Potsdamer Künstler konzentrieren sich auf die weiße Papierfläche, links und rechts von ihnen stehen kleine Rollwagen, in denen Farben auf ihren Einsatz warten. Neben Pinseln unterschiedlichster Größen, Rollen, Scheren und Klebstoff, sind auch Sprühdosen auszumachen.

Klangvoller Auftakt

Das Kunsthappening beginnt musikalisch. Barfuß betritt Schlagwerker Sönke Schreiber die Papierfläche, in den Händen eine Kalimba. Das Instrument zählt zu den Lamellophonen und ist ein kleines Klangwunder. Mit Klängen derart melodisch und zart, dass Zuschauer in eine akustische Traumwelt entführt werden. Pianistin Elisaveta Ilina folgt ebenfalls mit einer Kalimba, als musikalisches Echo. Ein klangvoller Dialog. Anschließend geht’s für sie ans Klavier, für ihn an ein Marimbaphon, das Holz-Schlagstabspiel beherrscht er virtuos.

Die Künstler malen und zeichnen mit Pinseln oder verschiedenen Konstruktionen.

© Andreas Klaer

Ein Künstler nach dem anderen betritt nun die Fläche: Jenny Alten, Bildende Künstlerin und Dramaturgin in Potsdam; Mikos Meininger, Maler, Bildhauer und Begründer des Kunsthauses sans titre; Kiddy Citny, der spätestens als (West-)Berliner Mauermaler international bekannt wurde; die aus Frankreich stammende Konzeptkünstlerin Cecile Wesolowski und Helge Leiberg, international bekannter und gesammelter Maler und Bildhauer.

Zunächst werden braune Tupfen aufgetragen, wie Spuren eines Tieres im Schnee. Eine Künstlerin kniet auf dem Papier, ein Schlangenkopf wird aufgeklebt. Von oben – aus dem zweiten Stock betrachtet – wirken sie wie malende, zeichnende, kritzelnde Kinder, emsig mit einem Gemeinschaftswerk beschäftigt. Liegend, kniend oder stehend – mit an Stöcken befestigten Pinseln – wird gemalt, geklebt oder gesprüht. Untermalt von eindrucksvollen Klangfarben.

Sphärische Klangräume

Das renommierte Duo Farbton versteht es meisterhaft, ungewöhnliche Klangbilder zu erzeugen. In einfühlsamen Arrangements lassen sie bekannte Kompositionen, wie zum Beispiel Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“, in neuem Glanz erstrahlen. Hier die Klänge des Pianos, dort kommt ein Handpan zum Einsatz, ein Ufo-förmiges Blechklanginstrument, welches sphärische Klänge erzeugt.

Die Zuschauer können das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven verfolgen. Einige stehen am Rand, andere begeben sich ins obere Stockwerk, betrachten sitzend oder umherlaufend, was da geschieht. Auf Monitoren wird das Kunsthappening für den Rest der – insgesamt rund 100 – Zuschauer live übertragen. Das Weiß des Papiers weicht einer Vielfalt von Farben: Gelb, Rot, Blau, Grün, sogar Neon-Pink. Zwischendurch gibt es kurze Pausen, von der Kunst wie von der Musik.

Im Liegen entsteht das Bild des kleinen Prinzen, ein flüchtig gepinselter Smiley grinst den Betrachtern ebenfalls entgegen. Cecile Wesolowski sticht unter den Künstlern hervor, zum schwarzen Kleid trägt sie einen Haarreif aus weißen Stoffblumen. Aus der Ferne wirkt sie wie Zimmermädchen aus dem vorvergangenen Jahrhundert. Die Performance der Künstler als Teil des Happenings.

Jetzt bringt Gershwin Schwung ins Spiel. Passend zur „Rhapsody in Blue“, 1924 erstmals aufgeführt, fegt ein Wischmop über die Farben. Erstaunlicherweise wird nichts verschmiert. Die Farben werden greller, Wellen, Punkte und Striche nehmen Formen an: Ein Pferd, ein Gesicht mit geschlossenen Augen, Wasser. Grelle Farben wechseln sich mit Matten ab, ein Geruch von Lösungsmittel erfüllt den Raum. Nichts für empfindsame Nasen.

Die Musik begleitet – in verschiedenen Tempi – das Geschehen auf dem Papier. Ein Dialog zwischen den beiden Kunstformen baut sich dabei nicht wirklich auf. Dennoch entsteht eine Spannung, dramatische Töne werden von heiteren Klängen abgelöst, das Weiß des Papiers ist einem Farbrausch gewichen. Was wohl Mussorgski über das lustvoll beflügelte Match zwischen Live-Musik und der Kunst sagen würde? Oder sein Malerfreund Victor Hartmann, dessen früher Tod ihn zu diesem musikalischen Werk von 1874 inspirierte?

Plötzlich wird das Publikum von „The Typewriter“ wachgerüttelt. Jene kurze Komposition von Leroy Anderson, bei der eine echte Schreibmaschine zum Einsatz kommt. Klack, klack, klack, Pling. Die mechanischen Typenhebel des Alphabets bestimmen durch ihren Einsatz den Rhythmus des Stücks.

Am Ende der Performance gleicht das riesige Gemeinschaftskunstwerk einem Patchwork aus Formen und Farben. Dazu bestimmt, am kommenden Tag in Stücke geschnitten, in drei Preisklassen unterteilt, in Passepartouts gefasst, für einen guten Zweck verkauft zu werden. Eine Erinnerung an ein flüchtiges Gesamtkunstwerk, entstanden am Jahrestag des Kriegs in der Ukraine.

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