Landeshauptstadt: 19 Meter Tunnel bis zur Freiheit
In der Nacht vom 25. zum 26. Juli 1973 flüchteten neun Menschen aus dem Grenzgebiet Klein-Glienicke nach Berlin. Das MfS war ihnen auf der Spur, doch die Potsdamer und Erfurter Familien hatten Glück
Stand:
Genau 80 Zentimeter hinter den Grenzanlagen tauchten am 26. Juli neun Menschen auf, verschlossen den Fluchtweg und entkamen den drohenden Repressalien der Staatssicherheit. Zwei Familien aus Klein-Glienicke und Erfurt konnten durch einen nur mit einer Kinderschaufel und einem Spatenblatt selbst gebauten 19 Meter langen Tunnel von Klein-Glienicke nach West-Berlin flüchten. Bekannt wurde die gelungene Flucht bereits in den Mittagsstunden des 26. Juli 1973: Eine Nachbarin informierte auf Anraten der Hausbesitzerin sofort den zuständigen Abschnittsbevollmächtigten (ABV), der gemeinsam mit den Kontrollposten der Grenztruppen der NVA bei der anschließenden Grundstückskontrolle den Tunnel im Keller des Hauses entdeckte. Kurz darauf trafen die Mitarbeiter der Untersuchungsabteilung des MfS-Potsdam zur Tatortuntersuchung ein.
Die Flucht war vom Zusammenspiel so vieler Faktoren abhängig, dass es nach heutigem Wissen über die Arbeit des MfS schon an ein kleines Wunder grenzte, dass sie gelingen konnte. Ausschlaggebend dafür war, dass das Grundstück in Klein-Glienicke nicht regelmäßig von den Grenztruppen kontrolliert wurde. Sie hatten das Grundstück als „nicht gefährdetes Tunnelobjekt“ in ihrem Grenzsicherungsplan eingestuft. Begründet wurde diese Einstufung mit dem extrem hohen Grundwasserspiegel in diesem Bereich des Grenzgebietes. Und in der Tat stand der Keller der Familie auch die meiste Zeit des Jahres unter Wasser. Diese Einschätzung enthielt jedoch einen schwerwiegenden Fehler. Die dort lebende Familie hatte in der Vergangenheit beobachtet, dass in Zeiten extremer Hitzeperioden dieser Grundwasserspiegel erheblich sank.
In dem Tatortuntersuchungsprotokoll vom 27. Juli 1973 hieß es dazu: „Das Grundstück befindet sich im Grenzgebiet unmittelbar an der Staatsgrenze der DDR nach West-Berlin. Bei dem genanntenGrundstück handelt es sich um das letzte Haus links vor den Sicherungsanlagen. Das Wohnhaus ist vollkommen unterkellert. In der rechten Kellerecke des ersten Kellerraumes befindet sich eine 0,70 m x 1,00 m große Ausgrabung, die vom Fußboden aus 1,00 m tief und 0,20 m mit Grundwasser gefüllt ist. Im Bereich dieses Loches ist die Grundmauer der rechten Kellerwand frei gelegt und darunter befindet sich eine 0,70 m x 0,60 m große Öffnung. Diese Öffnung führt zu einem mit Eisenrohren abgestützten und mit Brettern verschalten Tunnel, der in Richtung Staatsgrenze der DDR nach Westberlin verläuft. Die Fugen der Verschalung sind mit Mörtel verschmiert. Der linke Tunnelboden ist mit Brettern ausgelegt. Die Tunneldecke befindet sich 1,40 m unter der Erdoberfläche. Vor der Erdaufschüttung im Keller liegen eine Kinderschaufel, ein stielloser Spaten und eine Schürfrutsche aus Holz mit drei Rädern.“
Ein Grund, der eigentlich gegen das Gelingen der Flucht sprach, war die Tatsache, dass sich das MfS bereits seit dem 30. Dezember 1971 für beide Familien sehr interessierte. Auslöser dieses Interesses waren die inoffiziellen Berichte eines nahen Verwandten der Familien. Dieser IM der Abteilung II berichtete dem Führungsoffizier von seinem Verdacht über eventuelle Fluchtabsichten seiner Familienangehörigen. Daraufhin wurde ein Mitarbeiter der Abt. XX sofort beauftragt, die Überprüfung der Familien in Potsdam und Erfurt zu veranlassen. Es erfolgten Ermittlungen in den Wohngebieten, an den Arbeitsplätzen und es wurde die Post beider Familien kontrolliert. Am 16. März1972 wurde der IM noch einmal nach einer konkreteren Einschätzung der Fluchtabsichten befragt. In dem MfS-Bericht über die IM-Befragung hieß es: „Die Quelle konnte in Erfahrung bringen, daß die Ehefrau von .... nicht gewillt ist republikflüchtig zu werden und auch Angst hat, bei einem Grenzdurchbruch mit den Kindern verletzt zu werden. Sie selbst weiß nicht, was ihr Ehemann mit dem Erfurter ... aushandelt, ob er sich beeinflussen läßt, sie glaubt aber nicht daran, daß ihr Ehemann gewillt ist die Republik zu verlassen. Die Erfurter Familie äußerte sich gegenüber der Ehefrau von ...., daß sie die Republik unter allen Umständen verlassen werden und alles daran setzen um wegzukommen.“
Dass die Flucht gelingen konnte, lag hauptsächlich an der guten Planung der Flucht. Die erforderliche Vorbereitungszeit für den Tunnelbau war z. B. so ausgewählt worden, dass er genau in die Reisezeit der Hausbesitzerin fiel. Auch waren die Erfurter in der Vergangenheit häufiger zu Besuchen in das Klein-Glienicker Grenzgebiet ein- und wieder ausgereist, so dass die Einreise zur geplanten Fluchtzeit keinen Argwohn bei den Grenz-Kontrollposten hervorrief. Sie hatten rechtzeitig die Passierscheine zum Betreten des Grenzgebietes für die benötigte dreiwöchige Vorbereitungszeit zum Bau desTunnels beantragt. Und dazu gehörte auch eine nach außen hin vorgetäuschte Urlaubsreise der Erfurter Familie.
Am 17. Juli, dem Tag des angeblichen Reisebeginns, suchten sie beim Verlassen des Grenzgebietes das persönliche Gespräch mit den Grenzkontrollposten. Ihnen gegenüber äußerten sie, dass sie nun einige ruhige Urlaubstage, allein und ohne Kinder, an der Ostsee verbringen wollten. Vorher hatten sie im Kofferraum des Glienickers ein geeignetes Versteck geschaffen, in dem die Erfurter in den späten Abendstunden des 17. Juli wieder in das Grenzgebiet eingeschleust werden konnten. Danach mussten sie sich bis zur Vollendung des Tunnels und bis zur Flucht im Keller des Hauses versteckt aufhalten. Für die Kinder wurde jedoch eine offizielle Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung für das Grenzgebiet bis zum 31. Juli 1973, dem angeblichen Urlaubsende der Eltern, beantragt, so dass sie sich wenigstens bis zum Fluchttermin frei bewegen konnten.
Reaktionen des MfS: „Trotz der oben geschilderten Fehleinschätzungen des MfS hätten die Klein-Glienicker keinen späteren Zeitpunkt für ihre Flucht wählen dürfen. Die Mühlen des MfS mahlten zwar in diesem Fall etwas fehlerhaft und holprig aber dafür stetig.“ Der zuständige MfS-Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Potsdam erhielt immer mehr Informationen, die sein Misstrauen verstärkten. So berichtete der IM „Heinz“, der zur Überwachung des Klein-Glienickers am Arbeitsplatz eingesetzt worden war, über dessen „stark verändertes Verhalten“. Dieser wurde bis zu diesem Zeitpunkt als sehr engagiert, freundlich und ausgeglichen im Arbeitsprozess beschrieben, mache aber jetzt einen eher depressiven, unausgeglichenen und müden Eindruck. Auch der IM der Abteilung II gab noch ergänzende Informationen zu dem Erfurter Ehepaar. Auf Grund der Vielzahl der eingehenden Informationen beantragte der MfS-Mitarbeiter der BV Potsdam eine sofortige Einreisesperre für die Erfurter in das Grenzgebiet. Bis zum Inkrafttreten der Einreisesperre sollten ihm alle Passierscheinanträge der Erfurter Familie sofort mitgeteilt werden. Außerdem sollten durch die NVA-Grenzstreifen verstärkte Kontrollen des Grundstücks in Klein-Glienicke vorgenommen werden.Wenn die Anweisungen des MfS-Mitarbeiters sofort in die Tat umgesetzt worden wären, hätte die so gut geplante Flucht am Ende doch noch scheitern können.
Außer einigen vagen Pressemitteilungen erschienen keine größeren Berichte in den Zeitungen über die Flucht. Der Grund dafür war, dass vom damaligen West-Berliner Senat, auf ausdrücklichen Wunsch der Geflüchteten, über die gelungene Flucht eine Nachrichtensperre verhängt wurde.
Dieser von der Redaktion leicht gekürzte Text entstammt dem Buch „Der gefährliche Weg in die Freiheit“ von Hannelore Strehlow. Das 192-seitige Buch, das sich mit dem Mauerbau sowie mehreren gescheiterten und geglückten Fluchtversuchen beschäftigt, erschien im Jahr 2004 bei Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung. Es ist kostenlos in der Heinrich-Mann-Allee 107 zu erhalten.
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