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Das Afghanistan-Tagebuch des Entwicklungshelfers Stefan E. aus Potsdam: 40 Tage der Wut und der Angst
Wie der Potsdamer Entwicklungshelfer Stefan E. die Geiselhaft der Taliban in Afghanistan überlebte, offenbart nun sein Tagebuch. Es hat ihn über die Zeit der Gefangenschaft gerettet - und am Ende fast das Leben gekostet.
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Potsdam - Es ist ein Dokument der Todesangst und der Hoffnung. Erstmals geben die vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ausgewerteten Tagebuchaufzeichnungen des Potsdamer Sozialwissenschaftlers Stefan E. einen Einblick, wie der Entwicklungshelfer 40 Tage in Geiselhaft der islamistischen Taliban in Afghanistan überlebte. Wie berichtet war der 37-Jährige für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) dort beim Aufbau der Provinzverwaltung tätig und im April von Taliban entführt worden. Nach fast sechs Wochen konnte er sich selbst befreien und fliehen. Stefan E., der 2013 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam promoviert hatte, arbeite wieder, es gehe ihm gut, berichtet der „Spiegel“.
Ein Gotteskrieger-Heft für Kinder nutzte er als Tagebuch
E. wollte sich am 18. April von Kunduz aus, wo nach dem Abzug der Bundeswehr afghanische Sicherheitskräfte die Kontrolle übernommen haben, auf den Weg nach Masar-i-Scharif machen. Von den Sicherheitsexperten gab es eine Freigabe. Doch als Polizisten verkleidete Taliban stoppten sein Taxi und verschleppten ihn gewaltsam, gefesselt, mit verbundenen Augen. Was ihn über die Zeit rettete und ihn seinen Mut nicht verlieren ließ, war ein Heft. Einer der Bewacher gab es ihm, es enthielt islamistische Geschichten für Kinder, die zu „Gotteskriegern“ herangezogen werden sollen. Für E. war nur der weiße Leerraum interessant, und er hatte einen Stift und eine Taschenlampe. „Ich kann mich nicht erinnern, wie ich das vorher ausgehalten habe, und hoffe, sie geben mir weiter Stifte und Hefte, bis das hier zu einem guten Ende geht“, notiert der Potsdamer laut „Spiegel“-Bericht.
In dem Heft hält Stefan E. fest, wie ihn die Taliban behandeln, wie ihn Bettwanzen, Flöhe und Mücken plagen, wie er die Tage in einem dunklen Raum, gefesselt an Händen und Beinen, erträgt, was er zu essen bekommt. Er schreibt über Übelkeit, Magenkrämpfe und Schüttelfrost. Und dass die Entführer ihm den Kopf scheren, wie sie mit einem Handy ein Geisel-Video von ihm aufnehmen. Wie sie ihm zweimal am Tag die Fußfesseln abnehmen für den Gang zur Latrine. Und wie ihm die Taliban drohen, dass sie ihn einfach töten werden, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Wenn er ein US-Amerikaner wäre, würden sie ihn „ohne zu Zögern enthaupten“, wie beim „Islamischen Staat“. Aber auch über die unterschiedlichen Bewacher schreibt E., jene, die ihn gut behandeln, und andere, die es genießen „Macht über mich zu haben.“ Dann wieder berichtet der Entwicklungshelfer, wie er Explosionen, das Feuer von Maschinengewehren und Kampfflugzeuge hört.
Paradigmenwechsel: Wie die Bundesregierung Stefan E. gewaltsam befreien wollte und 178 KSK-Soldaten in Marsch setzte, lesen Sie hier.
Die ganze Verzweiflung zeigt sich, wenn ein paar Lichtstrahlen in seinen „Kerker“ fallen und ihn nur eifersüchtiger machen „auf die Menschen, die an diesem schönen Tag ihr Leben in Freiheit leben können. Draußen höre ich spielende Kinder vorbeilaufen, so nah und doch so weit weg, dann einen Esel und eine Ziegenherde.“ Es sind solche kleinen Freuden, ein Blick hinaus, das Waschen einmal binnen sechs Wochen, oder wie ihn ein kleiner Junge besucht, der „Salam Aleikum“ sagt und sich vor ihn setzt. „Nach kurzer Zeit geht er wieder. Wie schön. Made my Day“, notierte E.
Als die Taliban ihn nach der Telefonnummer seiner Eltern fragen, weil die Verhandlungen mit der Bundesregierung anders laufen als gewünscht, notiert E., die Gesprächsatmosphäre sei freundlich, „aber ich habe große Angst. Ich frage mich nun, ob aus Wochen auch Monate werden können“. E. tut selbst alles dafür, dass es dazu nicht kommt. Er kann bei den Toilettengängen seine Fußfesseln selbst an und ablegen, durch einen Trick täuscht er den Bewachern vor, dass sie fest an seinen Knöcheln sitzen. Auch die Handschellen kann er schon selbst abstreifen.
"Wut auf die scheiß-gottlosen Taliban, Mörder, gewöhnliche Kriminelle"
Der Entwicklungshelfer entschließt sich zur Flucht. In sein Tagebuch schreibt er noch: „Anders als erwartet scheint heute ein Tag der Wut zu werden, auf die scheiß-gottlosen Taliban, Mörder, gewöhnliche Kriminelle, die sich erlauben, meine Freiheit zu rauben, meine Familie zu belästigen.“ Er streift die Fessel und Handschellen ab, läuft Stunden durch die Nacht. Das Tagebuch packt er in eine Plastiktüte und presst es unter dem afghanischen Gewand ganz fest an sich. Fast hätte das Notizheft, das ihn über die Zeit rettete, noch das Leben gekostet. An einem Checkpoint halten ihn afghanische Polizisten erst für einen Attentäter, das Päckchen mit dem Tagebuch für einen Sprengstoffgürtel. Erst später bemerken sie, wen sie dort aufgegriffen haben.
Die Bundeswehr war 2013 nach zehn Jahren aus der Unruhe-Provinz um Kunduz abgezogen. Damals hatten viele Afghanen vor einer Rückkehr der Taliban gewarnt. Derzeit toben in Kunduz wieder Kämpfe zwischen Taliban und afghanischen Truppen.
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